Sogar Atheisten halten Atheisten für „böser“

Ohne Religion keine Moral - so denken offenbar viele. Eine Studie zeigt: Sogar Menschen, die selbst an keinen Gott glauben, trauen anderen „Gottlosen“ eher schlimme Dinge zu.

„Wird das Fromme von den Göttern geliebt, weil es fromm ist, oder ist es fromm, weil es geliebt wird?“ fragt Sokrates sein religiöses Gegenüber im Dialog Euthyphron. Darin lässt der griechische Philosoph Plato seinen literarischen Stellvertreter ausführen, dass es für ethisch richtiges Handeln keinen Gott braucht, da das „Gute“ gewissermaßen zuerst da war und so über ihm steht.

Dennoch hält sich in vielen Köpfen bis heute hartnäckig die Meinung, dass Moral erst durch die Religion in die Welt kam. Und dass uns erst die Kontrolle durch ein göttliches Wesen zu sozialen Wesen machte. Weder die Gewaltgeschichte vieler Religionen noch Forschungen, die biologische Ursprünge der Moral schon bei unseren tierischen Verwandten entdecken, konnten daran offenbar etwas ändern. Wie tief das Begriffspaar Moral und Religion in uns verwurzelt ist, macht die Arbeit der Forscher um Will M. Gervais von der University of Kentucky erneut deutlich.

Verknüpfungstäuschung

Sie haben mehr als 3.000 Menschen aus 13 Nationen dieselben Fragen gestellt. Manche Teilnehmer stammten aus recht säkularen Gesellschaften wie etwa Finnland, aber auch sehr religiöse Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate waren dabei (alle Nationen: Australien, China, Tschechien, Finnland, Hongkong, Indien, Mauritius, Niederlande, Neuseeland, Singapur, Vereinigte Arabische Emirate, Großbritannien, USA). Insgesamt haben die Forscher versucht, ein möglichst diverses Sample zusammenzustellen: Menschen mit unterschiedlichen kulturellen, politischen, sozialen und geographischen Hintergründe im Alter von 16 bis 70 Jahren.

Alle bekamen zuerst dieselbe Geschichte erzählt: Sie handelt von einem Mann, der schon als Kind Tiere gequält hat. Als Erwachsener wird er immer gewalttätiger. Das Ganze endet mit dem Mord und der Zerstücklung von fünf Obdachlosen. Anschließend wurden die Teilnehmer vor eine Auswahl gestellt, die rein logisch gesehen keine ist: Ist es wahrscheinlicher, dass der Täter (A) ein Lehrer ist oder (B) ein Lehrer, der gläubig ist (bzw. nicht an Gott glaubt).

Fragen wie diese bezeichnete man in der Psychologie als Verknüpfungstäuschung. Sie wird gern verwendet, um intuitives Denken zu testen. Aus rationalen Gründen müssten Menschen dabei immer die Möglichkeit (A) wählen, weil die in jedem Fall richtig ist. Entscheiden sie sich trotzdem für (B), passiert das, weil sich darin Erwartungshaltungen und Intuitionen der Getesteten spiegeln - so die psychologische Erklärung.

Religiöse Spuren

Die Tendenz des Experiments war deutlich. Enthielt die Antwort (B) den Zusatz, dass es sich um einen Atheisten handelt, wählten die Probanden ungefähr doppelt so häufig diese Option, als wenn der Zusatz den Lehrer als gläubig beschrieb - und zwar in religiösen genauso wie in säkularen Gesellschaften. Nur in zwei Ländern fiel das Ergebnis nicht ganz so deutlich aus, in Finnland und Neuseeland. Besonders überrascht hat die Forscher der Umstand, dass sogar die nach eigenen Angaben Ungläubigen die gleiche Präferenz zeigten.

In Folgebefragungen überprüften die Forscher, ob die Tendenz bei weniger schlimmen Vergehen (z.B. die Rechnung in einem Restaurant nicht bezahlen) bestehen blieb. Das war der Fall. Und auch wenn der Unglaube mit anderen Zweifeln kontrastiert wurde (z.B. an der Evolution, am Klimawandel), fiel das Ergebnis immer zu Ungunsten der Atheisten aus. Anscheinend gelten Ungläubige weltweit tendenziell als moralisch verkommen und gefährlich. Wie die Forscher vermuten, hat die Religion trotz der Säkularisierung tiefe Spuren in unserem moralischen Empfinden hinterlassen.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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