„Marshmallow-Test“ im Kulturvergleich

Die Willenskraft von kamerunischen Kindern ist größer als die von deutschen, wie Forscher mit Hilfe des „Marshmallow-Tests“ herausgefunden haben. Das zeigt: Wie psychologische Experimente ausgehen, hängt von der Kultur ab - und zwar deutlich stärker als gedacht.

Einen Marshmallow sofort essen oder zehn Minuten abwarten und die Belohnung verdoppeln? – Mit dieser Fragestellung untersucht der „Marshmallow-Test“ die Willenskraft von Kindern. Walter Mischel führte ihn das erste Mal in den 1960er Jahren in den USA durch. Die Kinder, die zu so einem Belohnungsaufschub bereit waren, zeigten sich im späteren Leben erfolgreicher. Sie lebten gesünder, waren stressresistenter und erlangten einen höheren Bildungs- und Karrierestand.

Die Forscher um Psychologin Bettina Lamm von der Uni Osnabrück haben nun die Ergebnisse von Kindern aus zwei sehr gegensätzlichen Kulturkreisen verglichen: Deutsche Mittelklasse vs. Bauernfamilien aus Kamerun.

Von klein auf anders

Gesundheitsvorsorge, Multimedia, Sport- und Freizeitanlagen – die Lebensumstände der 125 deutschen Kinder entsprechen in etwa dem westlichen Standard. Die 76 kamerunischen Kinder leben indes in eher bescheidenen Verhältnissen: In Häusern aus Lehmziegeln, ohne Wasserversorgung und zum Großteil auch ohne Elektrizität. Und schon im Säuglingsalter gehen die Erziehungsvorstellungen der Mütter stark auseinander.

Die ersten Auswirkungen dieser Unterschiede zeigten sich bereits beim Vortest. „Im deutschen Umfeld setzt man stark auf Autonomie. Die Kinder sollen Unabhängigkeit entwickeln, Individualität ausprägen und auch lernen, sich durchzusetzen. In Kamerun steht hingegen die Gemeinschaft im Vordergrund. Die Kinder müssen lernen, sich in die strenge Hierarchie einzufügen. Das erfordert Respekt, Gehorsam und die Kontrolle über ihre Emotionen.“, erzählt Lamm im Gespräch mit science.orf.at.

Umfeld prägt Willenskraft

Der „Marshmallow Test“ der Kinder erfolgte im Alter von etwa vier Jahren. Anstelle des klassischen Marshmallows durften die deutschen Kinder zwischen Schokolade und Lutschern wählen. Den Kamerunern wurde ein „Puff-Puff“ (eine speziellen Donutsorte) vor die Nase gesetzt.

Auffällig war zunächst das unterschiedliche Verhalten während des Tests. Lamm: „Bei den deutschen Kindern konnte man förmlich sehen, wie schwierig die Situation für sie ist. Sie haben mit sich selbst gekämpft, sich etwas erzählt, auf dem Stuhl herumgezappelt, mit den Händen getrommelt oder gesungen.“ Die Kameruner zügelten ihre Emotionen und waren eher weniger aktiv. Acht von ihnen sind während der Wartezeit sogar eingeschlafen.

Auch die Erfolgsquote unterschied sich stark zwischen den beiden Gruppen: Etwa 70 Prozent der kamerunischen Kinder warteten lieber auf ein zweites „Puff-Puff“. Die deutschen Kinder brachten hingegen nur in 30 Prozent der Fälle die nötige Willenskraft auf.

Frage der Erziehung

Bettina Lamm führt das auf die unterschiedlichen Erziehungsweisen zurück: „Die deutschen Kinder wollen ihr Leben aufgrund ihrer Erziehung aktiv mitgestalten. Das funktioniert aber in dieser Wartesituation nicht. Den Kamerunern hingegen fällt es leicht, sich unterzuordnen und der Situation anzupassen.“

Falsch ist der Erziehungsstil der deutschen Eltern laut Lamm deshalb aber noch lange nicht: „Die Erziehung ist immer an das Umfeld angepasst. Die deutschen Kinder entwickeln durch sie auch noch andere Kompetenzen als Selbstkontrolle und Willenskraft, die für ihr späteres Leben wichtig sind.“

Ob die geduldigen kamerunischen Kinder, ähnlich wie beim Test von Mischel, später erfolgreicher sind, kann noch nicht gesagt werden. Lamm zweifelt jedoch daran: „Ich gehe nicht davon aus, dass die Fähigkeit zur Selbstregulation in Kamerun auch so einen großen Prognosewert hat. Ich vermute, dass hier auch noch andere Faktoren wichtig sind. Welche das genau sind, wissen wir noch nicht. Dazu müssen wir erst untersuchen, wie sich die Kinder jetzt weiterentwickeln.“

Kultur hat Einfluss

Bettina Lamm will mit der Studie vor allem wachrütteln: „Unser Ergebnis unterstreicht, wie wichtig es ist, Kinder in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu untersuchen. Das ist aber häufig nicht der Fall: Fast alle Untersuchungen finden innerhalb von westlichen Mittelschichtspopulationen statt.“ Um zu verstehen, was alles hinter Fähigkeiten wie Selbstkontrolle und Willenskraft steckt, müsse man jedoch auch über den Tellerrand schauen.

Anita Zolles, science.ORF.at

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