Wenn Schnittlauch zu „Sinitlah“ wird

Wien spricht viele Sprachen: Der Linguist Thomas Fritz hat die sprachliche Vielfalt der Stadt anhand Tausender Aufschriften in Straßen und auf Märkten dokumentiert - und wurde von so manchem Fund selbst überrascht.

science.ORF.at: Sie haben die sogenannte „Linguistic Landscape“ in ausgewählten Wiener Grätzeln untersucht – was ist denn das?

Thomas Fritz: Bei dieser Forschungsmethode geht es darum, wie sich das Zusammenleben von Menschen in einer Gegend schriftlich bemerkbar macht. Die Menschen hinterlassen schriftliche Spuren, zum Beispiel Aushänge in Geschäften, Werbeplakate und Hinweisschilder, aber auch Graffitis und Aufkleber. Da ist es spannend zu fragen, welche Sprachen wo vorhanden sind, also wer wo was schreiben darf. Man bekommt damit auch einen Eindruck, wie sich Gegenden innerhalb einer Stadt voneinander unterscheiden.

Thomas Fritz

Thomas Fritz

Zur Person

Thomas Fritz leitet den lernraum.wien, das Institut für Mehrsprachigkeit, Integration und Bildung der Volkshochschule Wien. Darüber hinaus ist er Lektor am Institut für Germanistik der Universität Wien und beschäftigt sich mit Sprachenpolitik sowie der Didaktik des Zweitsprachen-Unterrichts.

Ausstellung

Eine Auswahl der Fotografien ist ab dem 26.9. in der Ausstellung „Linguistic Landscape – Mehrsprachigkeit from below“ in der Volkshochschule Brigittenau zu sehen.

In welchen Gegenden Wiens haben Sie diese Sprachenlandschaft untersucht?

Wir sind zuerst im 16. Bezirk losgezogen und haben in der Gegend von der Lugner City bis zum Yppenmarkt und vom Gürtel bis zur Kirchstetterngasse Fotos von Aufschriften gemacht. Und weil das so spannend war, habe ich mit Studierenden der Uni Wien im vierten Bezirk nahe dem Naschmarkt, am Viktor-Adler-Markt und am Hannovermarkt weitergemacht. So haben wir mittlerweile an die 6.000 Fotos gesammelt. Diese haben wir nach Sprachen geordnet und analysiert. Mit unseren traditionellen Sprachenbezeichnungen sind wir aber schnell an Grenzen gestoßen.

Wieso das?

Es gibt Beschriftungen, wo man auf den ersten Blick denkt, dass da etwas falsch geschrieben wurde. Wenn man aber genauer schaut merkt man, dass sich da mehrere Sprachen ineinander verschlingen. Auf dem Brunnenmarkt gab‘s zum Beispiel ein Schild bei den Küchenkräutern, auf dem stand „Sinitlah“. Das war nicht einfach falsch geschriebener Schnittlauch. Wenn man sich die türkische Lautstruktur anschaut, dann ist klar, warum das erste „I“ da ist, weil im Türkischen zwischen den Lauten „Sch“ und „N“ ein Vokal sein muss. Der Buchstabe „H“ wird am Silbenende als „ch“ gesprochen. Es ist also eine Mischung aus Deutsch und Türkisch. Gerade auf Märkten herrscht eine große sprachliche Dynamik.

Marktstand mit Gemüse und einem Schild, Aufschrift: "Sinitlah"

lernraum.wien

Allerlei Gemüse und Kräuter, unter anderem „Sinitlah“.

Lassen sich auch Phänomene wie die Gentrifizierung einer Gegend anhand von Sprachenlandschaften zeigen?

Ja, wir haben uns auch die Mehrsprachigkeit am Meidlinger Markt angeschaut. Der befindet sich in einer Gegend des zwölften Bezirks, der mittlerweile total gentrifiziert ist. Da gibt’s Deutsch, Englisch, Italienisch und Französisch und sonst fast nichts. Hier werden ganz andere Kundinnen und Kunden als auf den anderen Märkten angesprochen. Englisch ist überhaupt eine sehr präsente Sprache in Wien. Sie unterscheidet sich aber von anderen Sprachen, die verwendet werden, um Personen zu erreichen, die diese Sprachen tatsächlich sprechen. Ich habe das einmal den „Hippness-Faktor“ genannt – alles muss irgendwie auf Englisch sein.

Ö1-Sendungshinweis:

Diesem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 26.9., 13:55 Uhr.

Welche Sprachen sind denn sonst in Wien besonders präsent?

In Ottakring sind wir auf viele türkische und arabische Aufschriften gestoßen. Auch Bosnisch, Serbisch und Kroatisch sind hier präsent. Im vierten Bezirk haben wir dafür kaum Türkisch gefunden, das ist ganz interessant. Hier gibt es viel Chinesisch, Koreanisch, Thai und Vietnamesisch. Es hat mich überrascht welche umfassende Infrastruktur hier auf Chinesisch vorhanden ist, da gibt es chinesische Reisebüros, Haushaltswarengeschäfte, Supermärkte bis hin zum Friseur.

Schilder auf der Straße

lernraum.wien

Zwei von Fritz’ Fundstücken - ab heute Abend zu sehen in der VHS Brigittenau.

Sie haben auch informelle Aufschriften, wie Graffitis und Aufkleber analysiert, was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Wenn man sich Graffitis und Aufkleber anschaut bemerkt man, dass es da wirkliche Dialoge gibt. Da wird was aufgeschrieben, das wird geändert, da wird darüber geschrieben. Genauso ist es bei diesen Pickerln, die auf den Verkehrsschildern oder auf Sicherungskästen kleben. Da gibt es zum Beispiel einen rassistischen Aufkleber auf Bosnisch und daneben etwas Anti-Rassistisches in einer anderen Sprache – da findet eine sehr stark politische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen statt. Das finde ich faszinierend. Wenn wir das Projekt nicht gemacht hätten, hätte ich das gar nicht gesehen.

Sie sind auch in der Weiterbildung von Deutschlehrerinnen und -lehrern tätig. Was kann man aus dem Umgang mit Mehrsprachigkeit in Wiens Straßen lernen?

Ich habe den Unterrichtenden einmal Beispiele von unseren Märkten gezeigt, wie den vorhin erwähnten „Sinitlah“. Da haben alle gelacht. Dann habe ich Ihnen ähnliche Beispiele aus Texten von Deutschlernenden gezeigt und alle waren entsetzt. Ich würde mir einen lockeren, entspannten und neugierigen Umgang mit der Mehrsprachigkeit wünschen, wie wir ihn auf den Märkten finden. Diesen entspannten Umgang sehe ich bei Unterrichtenden noch nicht. Und bei Menschen, die wollen, dass alles auf Deutsch ist, natürlich auch nicht. Wir müssen erkennen, dass diese Mehrsprachigkeit einfach existiert und wir müssen sie akzeptieren, sie tut ja nicht weh, ganz im Gegenteil.

Wie sähe denn so ein entspannter Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht aus?

Fritz: Der sähe so aus, dass Unterrichtende wahrnehmen, dass vieles, was Lernende produzieren, nicht etwas ist, was sie nicht können, weil sie dumm sind - sondern, weil die verschiedenen Sprachsysteme etwas miteinander produzieren, genau wie auf den Schildern am Markt. Diese neuen Formen kann man entweder mit dem Rotstift bekämpfen, was aber relativ sinnlos ist. Oder man kann sie neugierig wahrnehmen und sich fragen, warum das so ist und mit den Leuten darüber reden. Wenn man den Menschen, die Deutsch lernen, auch Platz gibt für ihre eigenen Sprachen und diese nicht immer nur wegschiebt, dann verbessert sich auch der Deutschlernprozess. Menschen lernen sehr viel, wenn sie die eigene Sprachstruktur durchschauen und sie mit der des Deutschen vergleichen.

Interview: Lena Hallwirth, science.ORF.at

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