Warum britische Meisen so lange Schnäbel haben

Kohlmeisen aus Großbritannien besitzen längere Schnäbel als ihre Artgenossen vom Kontinent. Wissenschaftler vermuten, dass die Vogelliebe der Briten die Ursache ist - beziehungsweise all das Vogelfutter in britischen Gärten.

Einer der Gründe, warum der Evolutionsgedanke im 19. Jahrhundert auf einige Widerstände stieß, ist, dass er der Wahrnehmung zu widersprechen scheint. Hunde gebären Hunde, Katzen gebären Katzen und aus einem Vogelei schlüpft wieder ein Vogel. Wo ist da der Wandel, von dem Darwin sprach?

Er ist da, aber er spielt sich normalerweise in der Größenordnung von Hunderttausenden oder Millionen Jahren ab, auf Zeitskalen, die jenseits des direkt Erfahrbaren liegen. Insofern ist es immer wieder erstaunlich, wenn Forscher die Evolution in Aktion erwischen. So geschehen in einer aktuellen Studie, erschienen im Fachblatt „Science“.

Schnabel-Gene verändert

Da berichten Biologen von einer Kohlmeisenpopulation in Oxfordshire, England, die seit 70 Jahren unter wissenschaftlicher Beobachtung steht. Den Meisen ist in den vergangenen vier Jahrzehnten offenbar ein längerer Schnabel gewachsen. Ganz im Gegensatz zu den Artgenossen vom Kontinent, wie Untersuchungen in den Niederlanden zeigen. Vier Jahrzehnte, sagt Studienautor Jon Slate, „sind ein wirklich kurzer Zeitraum“.

Um der Sache auf den Grund zu gehen, analysierte das Team um Slate auch das Erbgut der Vögel und stellte fest: Auch im Genpool der britischen Meisen hat sich im gleichen Zeitraum ein Wandel ereignet. Gene, die die Form des Schnabels beeinflussen (vor allem das Gen COL4A5), haben sich offenbar durch Selektion verändert. Diese DNA-Sequenzen finden sich übrigens auch im menschlichen Erbgut, mit ähnlicher Funktion: Bei uns beeinflussen sie die Gesichtsform.

Kohlmeise sitzt auf Meisenknödel mit Futter

APA/dpa/Boris Roessler

Der Meisenknödel entpuppt sich als Evolutionsfaktor

Soweit wäre das Wie einer Beantwortung zugeführt worden. Spannender ist freilich die Frage: Warum? Ursache dafür könnte eine kulturelle Besonderheit sein, vermuten die Forscher. Bei den Briten ist „Birdwatching“ seit jeher ein Volkssport. Und die Beobachtung geht mit einer gewissen Zuneigung für das Federvieh einher, die sich in diesem Fall in Form von Vogelhäuschen und Meisenknödeln manifestiert. Also Evolution in Park und Garten, ausgelöst durch die Gegenwart von Vogelfutter?

Mehr Nachwuchs für Kulturfolger

Das jedenfalls ist die Hypothese, für die es einige Belege gibt: Erstens geben die Briten tatsächlich viel mehr für Vogelfutter aus als die Kontinentaleuropäer. Das könnte nebst der Tierliebe auch daran liegen, „dass es in Großbritannien relativ wenig zusammenhängende Wälder gibt, was der natürliche Lebensraum von Kohlmeisen wäre. Dafür haben wir umso mehr Parks und Gärten “, sagt Slater im Gespräch mit science.ORF.at.

Zweitens halten sich Vögel mit längeren Schnäbeln, wie die Forscher herausgefunden haben, länger an Futterspendern auf. Und sie pflanzen sich, drittens, auch erfolgreicher als ihre kurzschnäbeligen Artgenossen fort.

Wozu hat das Vieh diesen Schnabel?

„Wie wir von den Darwin-Finken wissen, hat die Ernährung großen Einfluss auf die Schnabelform“, sagt Studienautorin Mirte Bosse. Bliebe für die Schließung der Argumentationskette noch der Nachweis zu führen, warum der lange Schnabel beim Fressen am Futterspender von Vorteil ist. Welcher Mechanismus das sein könnte, wissen die Wissenschaftler nicht. Noch nicht.

Im Jahr 2009 hatten deutsche Biologen bereits eine ähnliche Beobachtung gemacht. Ihnen fiel auf, dass sich Mönchsgrasmücken mit unterschiedlichen Winterquartieren körperlich unterscheiden. Jene, die es winters nach Großbritannien zieht, besitzen im Vergleich zu den „Spaniern“ unter den Zuvgögeln ebenfalls längere Schnäbel. Auch hier liegt die Vermutung nahe: Schuld daran ist das Vogelfutter.

Robert Czepel, science.ORF.at

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