Fast die Hälfte der Sportlerinnen betroffen

Der „Fall Werdenigg“ ist alles andere als ein Einzelfall. Eine deutsche Studie zeigt, dass im Spitzensport fast die Hälfte aller Athletinnen von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Expertinnen erklären, was man dagegen tun kann.

Seit Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe gegen den Hollywood-Tycoon Harvey Weinstein und der darauf folgenden „#MeToo“-Kampagne haben Missbrauchsvorwürfe auch im Sport – vor allem in den USA – stark zugenommen.

Am Montag dieser Woche hat die ehemalige Skirennläuferin Nicola Werdenigg (Mädchenname Spieß) ein Tabu gebrochen und im „Standard“ von derartigen Fällen im Skisport – der wichtigsten und erfolgreichsten Sportart Österreichs – in den 1970er Jahren berichtet.

Drei Kategorien: Von „leicht“ bis „schwer“

Wie weit das Phänomen verbreitet ist, zeigt eine Studie aus Deutschland, die vor wenigen Wochen erschienen ist. Dabei wurden 1.800 Spitzenathleten und –athletinnen befragt. „37 Prozent von ihnen haben Erfahrungen sexualisierter Gewalt“, sagt Bettina Rulofs eine der Studienautorinnen und Sportsoziologin an der Sporthochschule Köln. Bei Frauen ist es fast die Hälfte, bei den Männern rund ein Viertel.

Darin beinhaltet sind „leichte Fälle“ wie sexistische Witze, sexuelle Grenzverletzungen wie unangemessene Berührungen im Training und „schwere Fälle“, die bis zur Vergewaltigung gehen. „Körperliche Übergriffe wie Vergewaltigungen oder versuchter Sex haben laut unserer Studie fünf Prozent der Athletinnen und ein Prozent der Athleten erlebt“, sagt Rulofs gegenüber science.ORF.at. Die Täter sind fast immer Männer, meistens sind es die Trainer und Betreuer, speziell bei den leichteren Fällen aber auch andere Sportler. Die Missbrauchsfälle kommen in allen Sportarten gleich vor, egal ob Einzel- oder Teamsport, ob Winter- oder Sommersport.

Aus Österreich gibt es dazu noch keine Zahlen. Man kann aber davon ausgehen, dass sie ähnlich aussehen wie in Deutschland. Derzeit läuft ein europäisches Forschungsprojekt, an dem auch die Universität Wien beteiligt ist. Ergebnisse dazu sollen im kommenden Jahr vorgestellt werden, sagt die Sportwissenschaftlerin Rosa Diketmüller von der Uni Wien.

Trainer ausbilden, Rechte kennen

Was können Sportvereine und –verbände nun tun, um Missbrauch zu vermeiden? Die grundlegenden Antworten dazu hat das – nicht gerade für seine enorme Innovationskraft bekannte – Internationale Olympische Komitee bereits vor zehn Jahren gegeben. In einem “Consensus Statment“ zählte es auf: entsprechende Verfahren entwickeln und überprüfen, Trainerausbildung verbessern, Zusammenarbeit mit Eltern stärken und wissenschaftliche Studien durchführen.

Ö1-Sendungshinweis

Über das Thema berichteten auch die Ö1-Journale, 23.11., 12:00 Uhr.

Die Sportsoziologin Rulofs rät Sportverbänden, die von Missbrauchsvorwürfen betroffen sind wie nun der ÖSV, zu einer systematischen Aufarbeitung der Vorwürfe. „Wir stellen uns immer vor, dass nur Einzelpersonen betroffen sind, aber es ist auch möglich, dass – salopp gesagt – Organisationen traumatisiert werden.“ Für die Betroffenen gelte: „Wer Hilfe braucht, muss sie bekommen. Frau Werdenigg hat deutlich gemacht, dass sie das Thema persönlich gut aufgearbeitet hat. Aber oft brauchen Betroffene Unterstützung in Form von Beratung und Therapie. Und dabei sollten sie die Sportverbände unterstützen.“

Vorrangig sei es, im Verband oder im Verein Sensibilität für das Thema zu entwickeln, sagt die Sportsoziologin. „Etwa durch Ausbildung von Trainern. Es ist auch wichtig, Ansprechpersonen für die Thematik zu haben, einen Verfahrensplan für den Umgang damit zu entwickeln und die Athleten und Athletinnen sowie ihre Eltern über ihre Rechte zu informieren.“

Wie es Norwegen macht

Das Norwegische Olympische Komitee geht ein paar Schritte weiter, wie die Sportwissenschaftlerin Kari Fasting 2014 in einem Bericht zusammengefast hat: Alle Trainer und Betreuerinnen müssen seit acht Jahren ein polizeiliches Führungszeugnis vorweisen, das sexuellen Missbrauch von Kindern ausschließt. Eine Telefon-Hotline wurde eingerichtet, unter der Hilfe und Rat jederzeit zur Verfügung steht. Und seit 2011 gelten für alle Sportverbände Richtlinien, um sexuelle Belästigung und Missbrauch zu verhindern.

Unter den Regeln: jeden Körperkontakt zu vermeiden, der als unerwünscht aufgefasst werden könnte; jede verbale Intimität vermeiden, die als sexuell aufgeladen verstanden werden könnte; Liebesbeziehungen zwischen Trainern und Sportlern vermeiden oder offen damit umgehen – und: Männer und Frauen sollten unter den Ansprech- und Hilfspersonen sein.

Wie wichtig gemischte Geschlechterverhältnisse sind, betont auch Bettina Rulofs: „Die Sportvereine, die mindestens eine Frau im Vorstand haben, haben wesentlich mehr Vorbeugemaßnahmen implementiert als solche ohne Frauen.“ Sport sei in den Führungspositionen nach wie vor stark von Männern dominiert. „Offensichtlich reicht schon eine einzige Frau, um einen Kulturwechsel herbeizuführen und sich auch mit solchen Themen zu beschäftigen. Das liegt nicht an ‚der Frau an sich‘, sondern eher an der Vereins- und Verbandskultur, die entstehen kann, wenn sie dafür offen ist, auch Frauen in Führungspositionen zuzulassen.“

Die größte Gefahr ist die Familie

Ob der Sport ein besonders „anfälliger“ Ort für Missbrauch ist, ist umstritten, da es wenig methodisch saubere Vergleichsstudien gibt. Eine der wenigen stammt aus Norwegen und kommt zu dem Schluss, dass Sport nicht „gefährlicher“ ist als andere gesellschaftliche Bereiche.

„Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen“, sagt dazu Rulofs. „Es wird überall dort virulent, wo es enge Abhängigkeitsverhältnisse gibt. D.h. im Sport, aber auch in anderen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit, in Internaten, Schulen oder kirchlichen Einrichtungen.“ Am größten sei die Gefahr von Missbrauch im Übrigen nach wie vor in der Familie. „Und der Sport hat in einigen Teilen familienähnliche Strukturen, weil man sehr viel Zeit miteinander verbringt.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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