Wie „Je suis Charlie“ zum Phänomen wurde

Am 7. Jänner 2015, eine halbe Stunde nach dem Anschlag auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo, postete der Grafiker Joachim Roncin auf Twitter den Satz: „Je suis Charlie“ - und löste damit eine mediale Lawine aus. Das Phänomen beschäftigt nun auch die Wissenschaft.

Der Satz verbreitete sich in Windeseile. Mit fünf Millionen „Retweets“ binnen einer Woche wurde der entsprechende Hashtag zu einem der erfolgreichsten in der noch relativ jungen Geschichte der sozialen Netzwerke. Bei den Demonstrationszügen zum Gedenken an die Opfer am 10. und 11. Jänner 2015, an denen sich insgesamt vier Millionen Franzosen beteiligten, war der Slogan allgegenwärtig.

Kommerzielle Anbieter sprangen rasch auf den Siegeszug des Logos auf. T-Shirts, Kaffeetassen, Hundehalsbänder: „Je suis Charlie“ machte vor Nichts Halt. Ableitungen des Slogans wurden bald auch nach anderen Terroranschlägen verwendet.

Als Frankreich die Worte fehlten

Die Sprachwissenschaftlerin Emmanuelle Prak-Derrington von der französischen Ecole Normale Superieure in Lyon hat sich mit den Gründen des „weltweit beispiellosen“ Erfolgs beschäftigt. Nach dem Anschlag, „der für undenkbar gehaltenen Katastrophe“, hätten in Frankreich „die Worte gefehlt“, schreibt Prak-Derrington in einem jüngst publizierten Artikel.

Aber eine Katastrophe verlange nach einem sprachlichen Ventil - warum ausgerechnet diese drei Wörter „das Unaussprechliche, das in der Gefühlswelt“ stattfand, „verdichtet zum Ausdruck“ bringen konnten, sei durch mehrere Faktoren zu erklären.

Universeller Bildtext

Zunächst sei „Je suis Charlie“ ein überaus kurzer, prägnanter Slogan, dem Prak-Derrington poetische Qualitäten attestiert. Auch aufgrund seiner einfachen, universal gültigen grammatikalischen Struktur habe er mühelos die Sprachgrenzen überwinden können. Ebenso wie viele Werbebotschaften weise „Je suis Charlie“ einen „bimedialen“ Charakter auf, so Prak-Derrington.

Der Slogan sei ein harmonisch komponierter „Bildtext“, was entscheidenden Einfluss auf den weltweiten Erfolg ausgeübt habe. Der grafische Minimalismus des Logos sei „universell“. Der schwarze Grund betone die Tragik der Ereignisse, die helle Schrift stehe für die positiven Elemente (wie Solidarität und Anteilnahme). Diese Botschaft werde überall verstanden.

Unbestimmt, aber verständlich

Der Slogan, so Prak-Derrington in ihrem Aufsatz, sei „unbestimmt“ und offen für beliebig viele Interpretationen, was seine rasche Akzeptanz erklären könne. Außerdem spreche er nicht „im Namen eines Kollektivs, einer Gruppe, oder einer Partei“.

„Ich“ könne hier jeder sein, der es sein wolle. Der Satz werde zudem „nicht gesungen, nicht skandiert, nicht gerufen, sondern zur Schau getragen und gelesen. Das Schweigen verbindet und verwischt die Grenzen zwischen den Individuen.“ Einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Erfolg lieferte laut der Wissenschaftlerin auch der Eigenname „Charlie“, der in der Populärkultur vieler Länder positiv konnotiert sei.

All diese Eigenschaften hätten es „Je suis Charlie“ erlaubt, zum sprachlichen Ventil der Trauer und Wut nach dem Anschlag zu werden. „Etwas auszudrücken, ohne es konkret zu benennen“, das war laut Prak-Derrington die Leistung des von Joachim Roncin kreierten Slogans.

science.ORF.at/APA

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