Paradoxie der Gleichberechtigung

Weltweit entscheiden sich deutlich mehr junge Männer als Frauen für eine naturwissenschaftliche oder technische Ausbildung. Paradoxerweise ist die Kluft in gleichberechtigten Gesellschaften sogar größer, wie ein Ländervergleich nun zeigt.

Viele blicken neidisch auf Staaten wie Finnland, Norwegen oder Schweden, wenn es um die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen geht. Auch bei der Qualität der Ausbildung sind die nördlichen Länder stets im Spitzenfeld vertreten, wie etwa die PISA-Studien regelmäßig zeigen. Aber - und das ist eines der überraschendsten Ergebnisse der aktuellen Studie von Gijsbert Stoet und David C. Geary - weniger als ein Viertel der Studienabgänger in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) sind dort weiblich.

In Ländern wie Albanien oder Algerien werden hingegen bis zu 40 Prozent der einschlägigen Abschlüsse von Frauen gemacht - obwohl diese, was die Gleichberechtigung (gemessen am Global Gender Gap Index) betrifft, eher am anderen Ende der Skala zu finden sind. Wie kann das passieren? Eigentlich sind Fachleute davon ausgegangen, dass die Unterschiede in der Berufswahl von Buben und Mädchen verschwinden werden, je mehr Gleichberechtigung bzw. Chancengleichheit es in einer Gesellschaft gibt. Wie es aussieht, ist das Gegenteil der Fall. Ein Paradoxon der Gleichberechtigung, wie die Forscher schreiben.

„Bestfächer“ entscheiden

Auf der Suche nach Ursachen haben die beiden Psychologen Geary und Stoet nun unter anderem PISA-Daten (2015) von über 400.000 15- bis 16-jährigen Jugendlichen aus mehr als 50 Staaten analysiert. Was die Leistungen in den Naturwissenschaften und Mathematik betrifft, sind sich Schüler und Schülerinnen recht ähnlich, in 26 Ländern waren sie gleichauf, in 22 Ländern waren die Buben leicht vorn, in 19 die Mädchen.

Ein etwas anderes Bild zeigt sich beim persönlichen „Bestfach“: Fast alle Buben schnitten bei den Naturwissenschaften am besten ab, Mädchen hingegen beim Lesen bzw. Leseverständnis. Das heißt, Mädchen sind zwar naturwissenschaftlich oft genauso gut wie Buben, beim Lesen aber eben noch besser.

Genau in diesem persönlichen „Bestfach“ könnte laut den Forschern eine Erklärung für die Berufswahl der Mädchen liegen. Jeder entscheide sich lieber für Dinge, die er besonders gut kann. In eher gleichberechtigten Ländern - die in der Regel reicher sind, wo es gute soziale Absicherungen gibt und die Lebenszufriedenheit meist höher ist - hat man laut den Forschern einfach die entsprechende Freiheit, sich gemäß seiner Begabungen und Vorlieben zu entfalten. Buben entscheiden sich zudem nicht nur für Naturwissenschaften, weil sie darin besonders gut sind. Häufig (in 34 Ländern) überschätzen sie laut den PISA-Auswertungen nämlich ihre diesbezüglichen Leistungen - interessanterweise ebenfalls besonders dort, wo die Geschlechterkluft eher klein ist.

Begabte Mädchen gehen verloren

Die geringere soziale Absicherung und die durchschnittlich schlechten Perspektiven könnten hingegen Gründe sein, warum sich in weniger gleichberechtigten Ländern mehr Mädchen für naturwissenschaftliche Karrieren entscheiden. Denn dadurch steigen die Chancen auf einen sicheren Job und ein gutes Einkommen.

Wenn man nur die Fähigkeiten betrachtet - was die absolute Leistung sowie das „Bestfach“ betrifft - müssten jedenfalls überall viel mehr Frauen einen naturwissenschaftlichen Weg einschlagen - bis zu 49 Prozent, wie die Forscher ausgerechnet haben. Warum so ein großer Teil der einschlägig begabten Mädchen am Weg in Richtung Universität verloren geht, bleibt eine der offenen Fragen. Wie die Autoren schreiben, braucht es offenbar mehr als allgemeine Gleichberechtigung, Begabung und eine gute naturwissenschaftliche Ausbildung, damit Mädchen am Ende eine solche Karriere wählen.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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