Debatte über neues „Organ“ im Körper

Forscher aus den USA lassen mit einem Fund im menschlichen Körper aufhorchen - hat die Medizin ein Organ übersehen? Ja, sagen die Entdecker. Diesem Befund stimmen nicht alle Fachleute zu.

Zwischen unseren Organen liegen Zwischenräume voll mit Binde- und Stützgewebe, Kollagen- und Muskelfasern: das sogenannte Interstitium. Nach bisherigen Untersuchungen hielt man solche Zwischengewebe für recht dicht und kompakt gebaut. Forscher der New York University haben diese Gewebsschichten bei Krebspatienten mithilfe der „konfokalen Endomikroskopie“ im lebendigen Körper sichtbar gemacht - und herausgefunden: Das Zwischengewebe besteht aus flüssigkeitsgefüllten Hohlräumen, die zumindest teilweise durchlässig sind.

Größer als gedacht

Dass solche Hohlräume existieren, wusste man bereits, erklärt Wolfgang Weninger vom Anatomischen Institut der Medizinischen Universität Wien. Wenngleich sie wohl größer und zahlreicher seien als bisher gedacht.

„Bei traditionellen histologischen Schnittbildtechniken wird Gewebe entnommen und dann in verschiedene Lösungen gebracht [um die Probe zu präparieren]. Das erzeugt eine Schrumpfung, wodurch solche Spalten kleiner und dichter werden - man sieht sie nicht so eindeutig.“

Grafik: Gewebe mit Hohlräumen

Jill Gregory / Mount Sinai Health System unter CC-BY-ND

So sieht das Zwischengewebe aus

Und natürlich bleibe auch die Flüssigkeit nicht erhalten. Die neue Studie zeige nun, welche Dimension die Hohlräume haben: Das System durchzieht praktisch den ganzen Körper.

Stoßdämpfer für Organe

Und wozu ist dieses System da? Die US-amerikanischen Forscher gehen davon aus, dass das Insterstitium eine Art Stoßdämpfer für Organe ist. Dass die interstitielle Flüssigkeit am Stoffaustausch beteiligt ist, war ebenfalls bekannt: Schüttet beispielsweise das Gehirn Botenstoffe aus, kommen diese nicht direkt über das Blut an Zellen, sondern zuerst in diese Flüssigkeit. Die Autoren der Studie mutmaßen daher auch, dass dieses System von Alterungsprozessen bis zu Krebserkrankungen eine wichtige Rolle spielen sowie neue Diagnosemöglichkeiten eröffnen könnte.

Als Organ sieht Anatom Weninger die jetzt sichtbaren Strukturen nicht: „Einen Hohlraum, der schwammförmig oder netzförmig verbunden ist, als Organ anzuerkennen ist schwierig. Der Organbegriff lässt das eigentlich nicht zu: Das würde heißen, dass mehrere Gewebe an dem Aufbau einer Struktur beteiligt sind und zusammenarbeiten.“ Würde man diese Strukturen als Organ einstufen, wäre es wohl noch größer als die Haut.

Sendungshinweis

Über dieses Thema berichtet auch das Mittagsjournal, 29.3.2018, 12.00 Uhr.

Präparate „nicht die Realität“

Bemerkenswert ist die neue Darstellung des Aufbaus solcher Zwischenräume dennoch. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie die Begrenzung vieler Routinemethoden vor Augen führt, so Weninger: „Es bringt einfach wieder ins Bewusstsein, dass ein histologischer Schnitt nicht die Realität wie beim lebenden Menschen widerspiegelt. Das kann man an dieser Studie sehr positiv hervorheben.“

Es gibt also, auch nach Jahrhunderten des Sezierens und Mikroskopierens, noch einiges zu entdecken im Körper des Menschen. Die Studienautoren geben sich mit der anatomischen Beschreibung jedenfalls nicht zufrieden. Nun wollen sie herausfinden, wie groß die Bedeutung dieser Hohlräume für physiologische Vorgänge wirklich ist.

Isabella Ferenci, science.ORF.at

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