Ein Jesuitenpater als Computerpionier

In den 1950er Jahren stößt der italienische Jesuitenpater Roberto Busa in mittelalterlichen Texten auf ein schwieriges Problem. Die Lösung findet er schließlich in Amerika, beim Konzern IBM: So wird der Geistliche zum Technikpionier - und zum Vater der Digital Humanities.

Im September 1949 sitzen einander im Hauptsitz von IBM an der schicken Madison Avenue in Manhattan zwei bemerkenswerte Männer gegenüber: ein junger italienischer Jesuitenpater in Kollar und Soutane, der in gebrochenem Englisch von einem mittelalterlichen Philosophen schwärmt - gegenüber in weißem Hemd und dunkelblauem Anzug ein erfolgreicher Manager eines Weltkonzerns und einer der reichsten Männer der Welt.

Der junge Jesuitenpater ist aus Gallerate angereist, einer norditalienischen Kleinstadt unweit von Mailand. Dort beschäftigt er sich für eine philosophische und sprachwissenschaftliche Dissertation mit den Schriften Thomas von Aquins.

IBM Hauptquartier in der Madison Avenue, New York City

International Business Machines Corporation

IBM World Headquarters, 590 Madison Avenue, New York City

Teil seiner Arbeit ist eine sogenannte Konkordanz, eine alphabetische Liste aller wichtigen Begriffe, eine Art Index. Roberto Busa stellt bald fest, dass er sein Megaprojekt einer Konkordanz aller Werke Thomas von Aquins und damit von elf Millionen Wörtern mit konventionellen Mitteln nie zu Lebzeiten vollenden kann.

Literaturhinweis

Die Arbeit mit Karteikarten bringen ihn nicht weiter. Er braucht etwas anderes. Im Auge hat er jene grauen und klobigen Maschinen, die im nahen Mailand bereits in vielen Büros für Buchhaltung und andere Berechnungen eingesetzt werden. Betrieben werden sie mit Lochkarten, also jenen länglichen Papierstreifen, auf die in unregelmäßigen Mustern Löcher eingestanzt werden. Zahlen werden also in Code, in 0 und 1, in Loch oder nicht Loch, umgewandelt. Busa hat eine vage Idee, dass er, um schneller voranzukommen, statt mit Karteikarten mit Maschinen arbeiten muss. Statt Zahlen müssten die Maschinen für seine Zwecke aber Wörter prozessieren.

„Das lässt sich unmöglich realisieren“

Aber wer soll diese teuren Maschinen finanzieren? Im Herbst 1949 wittert er seine Chance, erhält er doch den Auftrag, den Sohn einer wohlhabenden norditalienischen Familie nach New York an eine Privatschule zu begleiten. Und er bekommt über Umwege tatsächlich einen Termin bei Thomas Watson.

Der Firmenboss bittet Busa beim ersten Termin sein Anliegen niederzuschreiben, damit er es seinen Topingenieuren vorlegen kann. Nach zwei Wochen kommt Busa zurück, setzt sich an den Schreibtisch, und Watson begrüßt ihn mit dem Satz: „Meine Ingenieure sagen, sie sind ‚more American than Americans‘, amerikanischer als die Amerikaner. Das Projekt lässt sich unmöglich realisieren.“

Busa lässt das nicht auf sich sitzen. Er will wissen, wie Watson das sagen könne, wenn er es gar nicht versucht hat. Und er zieht einen kleinen Folder aus der Tasche, den er im Vorzimmer eingesteckt hat. Darauf steht: "The difficult we do right away, the impossible takes a little longer.“

„International Busa Machines“

Busa soll Watson den Zettel vors Gesicht gehalten haben mit den Worten: "Das gebe ich Ihnen zurück, denn das stimmt ja offensichtlich nicht.“ Thomas Watson blieb nichts anderes übrig als dem Projekt zuzustimmen, aber nur unter einer Bedingung: So müsse immer klar sein, wofür die drei Buchstaben IBM stehen: für „International Business Machines“ und nicht „International Busa Machines“.

Wenn die Geschichte nicht stimmt, so ist sie gut erfunden. Roberto Busa erzählte sie jedenfalls immer wieder, sagt Marco Passerotti. Er arbeitet an der Mailänder Università Cattolica als Philologe und Computerlinguist an einer Software für die automatische Analyse von lateinischen Texten. An der Cattolica betreut er auch den Nachlass des Jesuiten und führt dessen Arbeit fort.

Roberto Busa im Jahr 1956 mit einem IBM-Computer

International Business Machines Corporation

September 1956: Roberto Busa mit einem IBM 705

In Jahren nach dem Treffen bei IBM pendelte Busa zwischen Italien und den USA, wo er mit den IBM-Ingenieuren an seinem Projekt weitertüftelte und wissenschaftliche Konferenzen besuchte. 1952, drei Jahre nach Busas erfolgreichem Vorsprechen, gab es die erste öffentliche Präsentation der Zusammenarbeit im Hauptsitz von IBM in New York.

Der Priester als Werbefigur

1958 präsentierte IBM die Arbeit des Jesuitenpaters auf der Weltausstellung in Brüssel und zeigte damit auch eine Technik, die es zwar bereits in etliche Büros geschafft hatte, die vielen aber trotzdem noch neu und exotisch war. IBM wollte dadurch zeigen, dass der Konzern nicht nur imstande ist, schnöde Rechenmaschinen zu bauen, sondern dass mit seiner Technik auch altes Wissen der Menschheit bewahrt und erforscht werde.

Der Pater eignete sich hervorragend als Werbefigur und Markenbotschafter und verschaffte dem Unternehmen einen Kulturbonus. IBM inszenierte Busa als Nachfolger der mittelalterlichen Mönche, die in ihren Schriftstuben Manuskripte kopierten und dadurch Kulturerbe überlieferten.

IBM Italia stellte Busa einen ganzen Maschinenpark zur Verfügung. So baute er in einem ehemaligen Fabriksgebäude in Gallerate unweit von Mailand ein ganzes Forschungszentrum, in dem die Texte von Thomas von Aquin auf Lochkarten übertragen und dadurch maschinenlesbar gemacht wurden. Pater Busa und andere Linguisten und Philosophen, die dort arbeiteten, konnten sich so auf Knopfdruck die Lochkarten je nach Bedarf von den Maschinen sortieren lassen.

Auf Fotos sieht man die klobigen Maschinen an den Wänden aufgereiht, darüber hängen Kruzifixe. Sogar eine Kapelle hat Busa bauen lassen. An Tischen in Reih und Glied sitzen Dutzende Frauen in weißen Kitteln, die die Texte auf Lochkarten übertrugen. Busa hatte die Mädchen und junge Frauen in einer nahen katholischen Schule rekrutiert.

Frauen in weißen Kitteln an Tischen

CIRCSE Research Centre, Università Cattolica del Sacro Cuore

Lochkartencomputer in der Fabrikshalle: Arbeit am Index Thomisticus

Es dauerte ganze 30 Jahre, bis sein Mammutprojekt, der Index Thomisticus, mit elf Millionen Wörtern auf Lochkarten, fertiggestellt wurde. Doch zur damaligen Zeit, Ende der 70er Jahre, waren es schon gar keine Lochkarten mehr, mit denen Busa arbeitet, sondern Magnetbänder und erste rudimentäre Festplatten, mit denen der Zugriff auf die Daten wesentlich schneller ging. Seine Forschungseinrichtung war in den 30 Jahren mehrmals umgezogen, durch einen Autounfall waren Teile der Lochkarten verbrannt, Busa und seine Mitarbeiterinnen waren also immer wieder gezwungen, Teile der Arbeit von Neuem zu machen.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmete sich auch die Sendung Dimensionen am 7.03. Nachzuhören im Ö1-Archiv.

Ende der 70er Jahre erschien der Index Thomasticus auf Papier und brachte es auf 56 Bände. Seit 2005 ist er auch im Web abrufbar. Damals war Roberto Busa bereits über 90. Er hat das enorme Potenzial des World Wide Web durchaus gesehen, auch wenn er selbst für das neue Medium nicht mehr wirklich aufnahmebereit war. Thomas von Aquinus sollte online gehen, während Busa seine Briefe und Weihnachtsgrüße, in denen er Jahr für Jahr humorvoll den Fortgang seines Projektes schilderte, weiterhin mit Füllfeder schrieb.

„Never take a no as an answer!“

Roberto Busa starb 2011 im Alter von 97 Jahren in der Krankenstation der Jesuitenfakultät Aloisianum in Gallerate. Er gilt heute als der Begründer der Computerlinguistik und der sogenannten Digital Humanities, der digitalen Geisteswissenschaften. Darunter fällt eine breite Palette an Forschung: Da werden mittelalterliche Manuskripte mithelfe spezieller Software ausgewertet oder alte Schiffsrouten aufwändig visualisiert.

Was Busa auch außergewöhnlich machte: Er war eine Meister der PR, vor allem der Eigen-PR. Mit seinem Charme und Charisma wickelte er alle um den Finger, sagt Marco Passerotti: „Viele seiner Sätze sehe ich noch vor mir wie gedruckt, wie: ‚Never take a no as an answer.‘ Mit dieser Einstellung hat er Geld für seine Projekte aufgestellt. Er war ein ausgezeichneter Verkäufer. Aber er verkaufte nur das, woran er glaubte.“

Anna Masoner, Ö1-Wissenschaft

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