Der „Jazzmusiker“ der Arktis

Neue Tonaufnahmen machen das musikalische Repertoire des Grönlandwals hörbar: Der Bewohner der arktischen Meere ist ein Meister der Improvisation - Forscher fühlen sich aufgrund seiner Gesänge gar an „Jazz“ erinnert.

Mehr als 200 Jahre alt kann der Grönlandwal werden, er zählt damit zu den langlebigsten Säugetieren der Welt. Sein Zuhause sind die Arktis und die subarktischen Gebiete, kaum ein anderer Wal verirrt sich je so hoch in den Norden. Durch menschliche Waljäger wurden die arktischen Riesen jedoch an die Grenze der Ausrottung gebracht.

Die Studie

„Title: Extreme diversity in the songs of Spitsbergen’s bowhead whales“ (sobald online), Biology Letters (4.4.2018).

Heute sind von der einstigen, die ganze Arktis umspannende Gesamtpopulation geschätzte fünf getrennte Gruppen übrig, manche davon gelten als bedroht bis stark gefährdet. Eine davon - ihre etwa 200 Mitglieder leben östlich von Grönland - haben die Forscher um Kate Stafford von der University of Washington ab 2010 drei Jahre lang belauscht.

Unterwasser-Musik

Denn der Grönlandwal zeichnet sich durch eine weitere Besonderheit aus. Er zählt zu den wenigen Säugetieren, die komplexe Gesänge erzeugen können. Er und der Buckelwal - ebenfalls ein Bartenwal - sind die musikalischen Genies unter den Meeressäugern. Die „Lieder“ der Buckelwale sind schon recht umfassend untersucht: Die Männchen singen in der Paarungszeit, mitunter rund um die Uhr. Die Gesänge sind komplex und klar - durch Strophen und Themen - strukturiert. Innerhalb von Walverbänden und von Saison zu Saison kann sich der Aufbau nach und nach verändern.

Grönlandwal an der Wasseroberfläche

Kit Kovacs/Norwegian Polar Institute

Grönlandwal an der Wasseroberfläche

Wie die neuen Tonaufnahmen aus dem arktischen Meer nun zeigen, sind die Grönlandwale ähnlich ausdauernd wie ihre Verwandten. Während der gesamten Wintersaison - von November bis April - konnten die Forscher 24 Stunden täglich akustisches Material sammeln.

Breites Repertoire

Die Gesänge selbst waren jedoch ganz anders als jene der Buckelwale. Die arktischen Meeressäuger sangen einerseits viel mehr unterschiedliche „Lieder“. 184 Stücke, die mindestens zweimal vorkamen - haben die Forscher gezählt. Jede Saison kamen neue dazu, die meisten im Dezember und im Jänner.

Hörbeispiele

Lied Nr.2

Lied Nr.28

Nach ein paar Stunden, Tagen oder einem Monat verschwanden die meisten Melodien wieder. Und auch der Klang war völlig anders, wie Stafford in einer Aussendung beschreibt: „Wenn die Gesänge des Buckelwals klassische Musik sind, sind jene der Grönlandwale Jazz.“ Formal seien die „Lieder“ viel offener, mit vielen Phrasierungen bzw. Variationen bei Höhen und Frequenzen.

Vorteil unklar

Abgesehen von diesen klanglichen Details bleiben aber vorerst noch viele Fragen offen: Singen nur die Männchen? Haben alle Individuen eigene „Lieder“? Und warum ändern sich diese permanent? „Ich weiß nicht, warum die Wale diese bemerkenswerten Klänge produzieren, aber es muss einen guten Grund geben“, betont Stafford.

Eine Möglichkeit wäre, dass die wenigen Männchen in der relativ kleinen soziale Gruppe mehr Aufwand in den Gesang stecken, um ihren Fortpflanzungserfolg zu erhöhen. Die Vielfalt könnte aber auch nur ein zufälliges Nebenprodukt sein, wie die Studienautoren schreiben: Da keine anderen Wale die arktischen Gewässer bewohnen, müssen die Klänge des Grönlandwals für Artgenossen nicht eindeutig identifizierbar sein, im Lauf der Zeit können so immer wieder neue Variationen entstehen. Vielleicht bringt aber auch die Neuheit selbst einen bisher unbekannten Vorteil.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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