Jugendliche mit doppelter „Halbidentität“

Die Bildung einer historischen Identität gelingt deutschen Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund kaum. Der Grund: Sie fühlen sich in beiden Ländern fremd - und leiden an einem „Diasporakomplex“.

Wie hängen Geschichtsbewusstsein und Identität zusammen? Diese Frage stellte sich die Geschichtsdidaktikerin Lale Yildirim vom Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaft an der Freien Universität Berlin und führte eine Studie mit 226 Jugendlichen zwischen 15 und 16 Jahren in Köln durch. Mittels Fragebögen und qualitativer Interviews erhob Yildirim etwa den Grad der Auseinandersetzung mit Geschichte sowie die Art, wie die eigene (Familien-)Geschichte erzählt wird.

„Worst Case“ als Normalfall

Dabei stellte sie fest: Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund haben zwar tendenziell ein höheres Geschichtsverständnis als autochthone Jugendliche, trotzdem gelingt es ihnen nicht, daraus eine historische Identität zu entwickeln: „Sie können mit Geschichte nicht in der Form umgehen, sodass sich ihre Identität balanciert ausbildet. Ihre eigene Verortung gelingt nicht, sie sind orientierungslos. Sie befinden sich in einem Niemandsland und suchen nach Fluchträumen.“ Diesen „Diasporakomplex“ stellte sie bei allen Jugendlichen fest, deren Großeltern aus der Türkei nach Deutschland kamen.

Der Grund: Die Identifikation mit der deutschen Geschichte werde von der Mehrheitsgesellschaft verwehrt. Die Jugendlichen werden in Deutschland immer noch als Fremde gesehen - und in der Türkei als Deutsche. Dadurch identifizieren sie sich doppelt mit der Geschichte, aber jeweils „nur so halb“. Yildirim nennt das „doppelt semi-historisches Bewusstsein“. Sie ging zu Beginn ihrer Studie davon aus, dass es sich dabei um den „Worst Case“ handeln würde: „Tatsächlich ist es aber der Normalfall unter Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund.“

Zeitgeschichtetag

Von 5.-7.4. findet der 25. Österreichische Zeitgeschichtetag an der Universität Wien statt.

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Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 6.4., 13:55 Uhr.

Zeitgeschichte global denken

Die Orientierungslosigkeit, die durch diese doppelte „Halbidentität“ entsteht, wisse sich im Moment der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu Nutze zu machen, sagt Yildirim: „Da kommt jemand, der sagt: ‚Natürlich seid ihr Türken, auch wenn ihr im Ausland lebt.‘ Erdogan argumentiert auch historisch, indem er darauf hinweist, dass es immer schon Türken gab, die im Ausland lebten. Ohne Bedingungen spricht er den Menschen eine türkische Identität zu.“ Dieses Angebot löse bei vielen deutsch-türkischen Jugendlichen Euphorie aus.

Wie kann man „dem doppelt semi-historischen Bewusstsein“ in der Geschichtsdidaktik begegnen? Yildirim dazu: „Geschichtsunterricht muss über die nationalen Grenzen hinausdenken. Solange beispielsweise die Zeit des Nationalsozialismus nur als Geschichte der Autochthonen vermittelt wird und nicht als eine Katastrophe der Menschheit, bleibt die Vermittlung schwierig.“ Und man muss die Jugendlichen und ihre eigenen Geschichten miteinbeziehen – etwa, indem man die Migrationsgeschichte auch als deutsche Zeitgeschichte unterrichtet.

Katharina Gruber, Ö1-Wissenschaft

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