Asperger an NS-Verbrechen beteiligt

Bekannt ist Hans Asperger als Namensgeber für eine Form von Autismus. Wie bisher unbekannte Dokumente belegen, war der Kinderarzt aktiv am „Euthanasie“-Programm der Nazis beteiligt. In zwei Fällen schickte er sogar „unheilbare“ Kinder in den Tod.

Asperger stand lange Zeit für die Entdeckung und Beschreibung einer speziellen Form des Autismus. Manche verstanden den Kinderarzt und Heilpädagogen sogar als heimlichen Kämpfer gegen die sozialdarwinistisch-rassistische Ideologie, die während des Nationalsozialismus in der Medizin vorherrschte und Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen sowie Langzeitpatienten in psychiatrischen Pflegeanstalten als lebensunwert einstufte.

Als Beleg für Aspergers Widerstand dagegen wird immer wieder seine Rede aus dem Jahr 1938 zitiert, in der er sich dafür ausspricht, autistische Kinder zu fördern und Menschen mit geistigen Behinderungen in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Eine neue Studie des Medizinhistorikers Herwig Czech vom Josephinum, das als Institut für Geschichte der Medizinischen Universität Wien fungiert, zeigt Asperger nun von einer ganz neuen Seite.

Entschied über Spiegelgrund-Einlieferung

Aspergers steile Karriere begann 1931 an der Universitätskinderklink in Wien, wo er 1935 die Leitung der Heilpädagogischen Abteilung übernahm. Dort oblag es ihm, „auffällige, schwer erziehbare oder asoziale“ Kinder zu beurteilen. „Es war ihm wichtig, ab 1938 die Heilpädagogik als unverzichtbare Disziplin im Deutschen Reich zu etablieren“, so Czech. Und das gelang ihm auch.

Zwar hatte Asperger nicht das letzte Wort über das Schicksal der ihm anvertrauten Kinder, doch wog sein Urteil schwer – in mehrfacher Hinsicht. Denn einerseits wurden seine Empfehlungen meistens umgesetzt und andererseits entschied er damit auch über das weitere Leben der Betroffenen.

Gruppenbild 1933 mit Hans Asperger

Josephinum, Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, MedUni Wien

Hans Asperger (vorne rechts) mit Ärzten der Wiener Kinderklinik, Sommer 1933

Von Aspergers Diagnose beziehungsweise Prognose hing es ab, ob die Kinder zu ihren Familien zurück durften, in Pflegefamilien Unterschlupf fanden, in Heime kamen – in denen Gewalt und Misshandlungen an der Tagesordnung standen – oder in die Anstalt Am Spiegelgrund, die zwischen 1940 und 1945 als Wiener Zentrale der „Kindereuthanasie“ diente, gebracht wurden.

Härtere Diagnosen als seine Kollegen

Czech nahm Aspergers medizinische Beurteilungen genauer unter die Lupe und verglich sie mit jenen der Spiegelgrund-Ärzte. „Eine der gängigen Thesen zu seiner Arbeit ist ja, dass er die Diagnosen seiner Patienten bewusst besser geschildert hätte, als sie tatsächlich waren, um die Betroffenen vor Sterilisationen, Heimen oder der Kindereuthanasie zu schützen.“ Das Gegenteil war der Fall.

Czech konnte anhand von 30 Krankengeschichten nachweisen, dass Asperger oft härtere Einschätzungen gegenüber seinen Patienten und Patientinnen vertrat als seine Spiegelgrund-Kollegen. In nur zwei Fällen beurteilte Asperger die Kinder weniger streng, bei 16 weiteren kamen beide Instanzen zu einem ähnlichen Ergebnis. Bezüglich der restlichen zwölf Patienten und Patientinnen fiel Aspergers Diagnose pessimistischer sowie drastischer aus.

Czech führt in seiner Studie unter anderem den Fall des zweijährigen Gerald St. an. St. wurde von Asperger als „intellektuell zurückgeblieben" sowie "charakterlich gestört“ und als „untragbare Belastung für eine normale Kindergemeinschaft“ bezeichnet. Als Folge überwies man den zweijährigen Buben in die Anstalt Am Spiegelgrund. Dort wurde er ein Jahr später nochmals von Heinrich Gross – dem berüchtigten Arzt der „Euthanasie-Klinik“ – untersucht. Seine Prognose war um einiges positiver. Er attestierte St. zwar ebenfalls einen „intellektuellen Rückstand“, beobachtete aber „gute Fortschritte“ und beschrieb ihn als „gemütlich ansprechbar“ und „antriebsreich“. Gross entließ den Buben sogar aus der Anstalt und übergab ihn in die Obhut seiner Großeltern.

Heilpädagogik als autoritäre Erziehungsmethode

Zur gleichen Zeit engagierte sich Asperger aber auch für seine Patienten und Patientinnen – zumindest für jene, für die nach seiner Ansicht „Hoffnung auf Heilung“ bestand. Es gibt Überlieferungen, dass er seinen Schützlingen vorgelesen und sie täglich besucht haben soll. Wie passt dieses Verhalten mit seinen strengen wie folgenschweren Urteilen zusammen, die in zwei Fällen nachgewiesenermaßen sogar den Tod der Kinder zur Folge hatten?

Der österr. Kinderarzt Hans Asperger im Jahr 1971

picturedesk.com/Imagno/Votava

Asperger bei einem Kongress für Kinderheilkunde im AKH Wien 1971

Das passe sehr gut zusammen, meint Czech, der in diesem Zusammenhang auf das falsche Schwarz-Weiß-Bild gegenüber dem Nationalsozialismus verweist, das sich bis heute halte. „Es ist ein Missverständnis, dass die Nationalsozialisten wahllos alle sogenannten ‚Normabweichler‘ umgebracht haben.“ Vielmehr ging es darum, „verhaltensauffällige“ Kinder bestmöglich umzuerziehen und auch mit Zwang in die „Volksgemeinschaft“ zu integrieren. Und genau diese Aufgabe kam der Heilpädagogik zu. „Dabei darf man sich die Heilpädagogik nicht als Behandlung im heutigen Sinne vorstellen, sondern eben als autoritäre Erziehungsmethode.“

Opportunist, kein überzeugter Nazi

Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen war Asperger nicht Mitglied der NSDAP, er stellte aber einen Mitgliedsantrag beim Nationalsozialistischen Ärztebund - der allerdings niemals angenommen wurde. „Er hat immer eine gewisse Vorsicht walten lassen, er war kein überzeugter Nationalsozialist. Aber er ist auch nie in Opposition gegangen“, betont Czech. Seiner Ansicht nach habe bei Asperger klar der Opportunismus überwogen, der ehrgeizige Arzt wollte seine Karriere vorantreiben.

Das Argument, Asperger hätte zur damaligen Zeit gar keine andere Möglichkeit gehabt, als in dem System mitzuspielen, lässt der Medizinhistoriker nicht gelten. „Sein Leben stand nie auf dem Spiel, wie das manchmal so dargestellt wird. Er wäre nicht in ein Konzentrationslager gekommen. Asperger hätte als ausgebildeter Kinderarzt sehr wohl die Alternative gehabt, zum Beispiel in einer eigenen Praxis sein Auslangen zu finden. Die Frage ist, an welchen Maßstäben man ihn misst.“ Hier sollte man wohl die Gesamtheit und Tragweite seiner Handlungen berücksichtigen.

„Genetische Neigung zu Missbrauch“

Und anhand dessen zeigt sich, dass Asperger bis zu seinem Tod 1980 ein gewisses Gedankengut beibehielt, das teils mit den Nationalsozialisten übereinstimmte. So habe er gemeint, dass bestimmte Patienten und Patientinnen erblich dazu prädestiniert seien, in Schwierigkeiten zu geraten.

„Das ist besonders eklatant in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch beispielsweise, wo er Opfern eine, er nannte es ‚endogene Erlebnisbereitschaft‘, also eine angeborene Neigung, in solche Situationen zu geraten, zugesprochen hat. Er hat sich hier auch auf die Theorien des italienischen Arztes Cesare Lombroso aus dem 19. Jahrhundert bezogen, wonach es geborene Verbrecher und geborene Prostituierte gibt“, schildert der Medizinhistoriker.

Czech sagt, er habe sicher keinen Anspruch, ein abschließendes Urteil über Asperger zu fällen. Er wolle eine Diskussion unter Berücksichtigung aller Fakten anstoßen. Und hier will er seine mehr als 40-seitige Studie – für die er diverse Publikationen von und über Asperger, Personalakten und politische Beurteilungen, Archivmaterial und natürlich sämtliche Krankengeschichten durchforstet hat – als zusätzlichen Puzzlestein in der Aufarbeitung dieser komplexen Persönlichkeit verstanden wissen.

Daphne Hruby, Ö1-Wissenschaft

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