„Dank Demenz sehe ich meine Geburt“

Helga Rohra war 52 Jahre alt, als sie die ersten Symptome ihrer Demenz beobachtete. Heute ist die Münchnerin 65, kämpft energisch für mehr Respekt gegenüber Demenzkranken – und kann ihrer Krankheit auch Positives abgewinnen.

Helga Rohra strahlt übers ganze Gesicht. „Eine junge Redakteurin, die sich für das Thema interessiert, fantastisch“, ruft sie, streckt sofort ihre Hand aus und geht dann schnellen Schritts die Stufen hinauf zum Zimmer, in dem das Gespräch stattfinden soll. Einmal Platz genommen, sind ihre grün-blauen Augen ständig auf das Gegenüber gerichtet.

Sie beobachtet, ordnet ein, reflektiert. Immer wieder fährt sie sich lachend durch ihre knallrot gefärbten Haare. „Wissen Sie, ich bin jetzt auch meine eigene Friseurin.“ Nicht nur hier hat die Deutsche, die vor Kurzem auf Einladung der Caritas in Österreich war, neue Maßstäbe gesetzt.

Demenzaktivistin Helga Rohra

ORF/Lukas Tremetsberger

Die Demenzaktivistin Helga Rohra

science.ORF.at: Frau Rohra, bis heute hält sich ein stereotypes Bild, wie ein an Demenz erkrankter Mensch auszusehen hat. Nun lassen Sie diesen Vorurteils-Dampfer, sowohl was die Optik als auch die Fähigkeiten anlangt, gehörig auflaufen. Hören Sie oft den Satz: „Sie sehen ja gar nicht aus wie eine Demenzpatientin?"

Helga Rohra: Ja, und das ist ein großes Problem. Das Bild ist immer, sie müssen alt sein und sie sollten zusätzlich auch noch sehr gebrechlich wirken sowie einen Begleiter haben. Und wenn sie auch noch im Rollstuhl sitzen, ist es klar: „Die arme Alte hat Demenz.“ Aber dieses Bild hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Und ich denke, wir die Pioniere, wie ich uns nenne, müssen in die Öffentlichkeit gehen und sagen: Du siehst es mir nicht an, dass ich Demenz habe. Du müsstest mit mir tagelang Zeit verbringen, um zu sehen, was meine Einschränkungen im Leben sind, was sich alles verändert hat im Vergleich zu früher.

Sie kritisieren, dass jüngere Betroffene, wie Sie eine waren, zu wenig Unterstützung erfahren würden, inwiefern?

Ö1-Sendungshinweis

Über das Thema berichteten auch der Radiodoktor - das Ö1 Gesundheitsmagazin, 25.4., 16:40 Uhr.

Rohra: Die jungen Menschen mit Demenz, also Menschen, die noch nicht im Pensionsalter oder ein Pflegefall sind, werden bei den finanziellen Leistungen und der allgemeinen Unterstützung nicht berücksichtigt. Ich persönlich bin am 19. April 65 Jahre alt geworden und damit könnte nun in Rente gehen. Aber davor war ich eine Sozialhilfeempfängerin. Ich habe die Diagnose ja schon so lange, seit zehn Jahren. Also ich habe jetzt zehn Jahre mit 2,50 Euro pro Tag auskommen müssen. Und ich bin hier kein Einzelfall. Das ist beschämend für eine Gesellschaft und gehört dringend geändert.

Sie sind auch in der „European Working Group of People with Dementia“, deren Vorsitzende Sie bis 2017 waren, engagiert. Und kürzlich haben Sie auf Einladung der Caritas in Wien einen Vortrag gehalten sowie eine neue Niederlassung der Demenz-Selbsthilfegruppe „PROMENZ“ in Klosterneuburg besucht.

Rohra: Richtig. Diese Arbeit bereitet mir große Freude und ich höre dann auch immer wieder: Frau Rohra, Sie machen den Menschen Mut. Das ist sehr schön. Aber ich muss dazu sagen, diese Tätigkeiten sind alle ehrenamtlich, ich mache das pro bono. Natürlich bekomme ich die Reise und den Hotelaufenthalt gezahlt, anders ginge es sich bei mir finanziell auch gar nicht aus.

Wie haben sich die ersten Symptome bei Ihnen gezeigt?

Rohra: Ich war Konferenzdolmetscherin und konnte mir plötzlich in den verschiedenen Sprachen die einfachsten Sachen nicht mehr merken oder übersetzen. Ich litt auch unter Orientierungsstörungen, also ich kam mir sogar in meiner Heimatstadt München völlig fremd vor. Dann hatte ich auch Wortfindungsstörungen in meiner Muttersprache Deutsch. Und schließlich kamen die Halluzinationen. Also es sind immer einige Symptome über eine längere Zeitdauer – fünf, sechs Monate. Vorher muss man sich da keine Sorgen machen.

Weil diese Symptome ja auch Anzeichen für ein Burn-Out sein können?

Rohra: Genau. Und das wurde zunächst ja auch bei mir vermutet. Ich selbst wäre ja auch niemals auf die Idee gekommen, dass ich Demenz haben könnte. Ich dachte zunächst an einen Tumor, der auf bestimmte Areale in meinem Gehirn drückt und dadurch diese Symptome verursacht.

Demenzaktivistin Helga Rohra

ORF

Vor zehn Jahren wurde dann aber bei Ihnen Demenz festgestellt. Wie haben Sie sich nach dieser Diagnose gefühlt?

Rohra: Ich hatte eine Frage an den Arzt. Und zwar nicht: warum gerade ich? Sondern: Was kann ich persönlich tun, um das Fortschreiten zu verzögern? Ich war damals bereits mit einer gewissen Haltung ins Gespräch gegangen. Ich habe mir gesagt, egal welche Diagnose ich jetzt bekomme, ich will es schaffen. Das ist auch eine Botschaft an Ihre Leser: Sie müssen die Kraft in sich finden und fest an sich glauben.

Leider gibt es bis heute kein Heilmittel gegen Demenz. Sie reisen nun in Ihrer Rolle als Demenzaktivistin, wie Sie sich selbst bezeichnen, quer durch die Welt. Wie schaffen Sie es, so aktiv zu blieben?

Rohra: Ich lebe so aktiv, weil ich mein Leben liebe trotz Demenz, mir wurde dieses Leben geschenkt. Und ich möchte den Menschen auch Mut machen, ihnen sagen: Das Medikament alleine, das ist zu wenig. Es gibt viele Möglichkeiten, meinen Zustand möglichst stabil und eine gute Lebensqualität aufrecht zu erhalten.

Und wie sehen hier Ihre Tricks aus?

Rohra: Ich habe meine Ernährung komplett umgestellt. Ich esse kein Fleisch mehr, keine Süßigkeiten, trinke keinen Alkohol. Man könnte das als vegetarisch-mediterrane Kost bezeichnen. Ich habe mir zusätzlich zu meinem Mops noch eine Labrador-Hündin angeschafft, mit der ich gemeinsam mit einer Trainerin Übungen mache, im Wald draußen auf der Wiese. Wir trainieren auch für Championate. Ich mache das, was mir gut tut, was mir Freude bereitet. Aber ich muss mich auf jeden Fall viel bewegen und auf meinen Lebensstil achten, auf eine Balance. Ich lege dazwischen auch immer ausreichend Ruhepausen ein. Außerdem umgebe ich mich mit Menschen, die mich nicht bemitleiden, nicht bevormunden, sondern die mir auf Augenhöhe begegnen, die meine Partner sind.

Stichwort auf Augenhöhe begegnen: Sie kritisieren immer wieder auch öffentlich das Verhalten mancher Ärzte gegenüber Menschen mit Demenz. Was würden Sie sich hier für Veränderungen wünschen?

Rohra: Einige Ärzte konzentrieren sich leider nur auf die Pathologie, also das Krankheitsbild, und vergessen, dass es sich hier auch um einen Menschen handelt, mit individuellen Bedürfnissen, Sorgen und Fähigkeiten. Das ist auch ein Aufruf an das gesamte medizinische Personal: Bitte sehen Sie mich als Person und nicht nur als „die Patientin mit Demenz“. Berücksichtigen Sie bitte auch meine Ressourcen und geben Sie mir Perspektiven.

Es gibt viele verschiedene Arten von Demenz. Bei Ihnen wurde die sogenannte Lewy-Körper-Demenz diagnostiziert, bei der sich Eiweißreste in den Nervenzellen vor allem in der Großhirnrinde ablagern. Dieser Bereich unseres Denkapparats spielt unter anderem bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken eine große Rolle – daher auch die Halluzinationen, die für die Lewy-Körper-Demenz so typisch sind. Wie gehen Sie damit um?

Rohra: Nun ja, vielen macht das sicherlich Angst. Aber man kann es auch umkehren und sagen: Diese Halluzination, das ist eine Bereicherung. Ich sehe meine Geburt. Ich sehe mich, wie ich gewickelt wurde als Baby mit ein, zwei Monaten. Es gibt Menschen, die gehen in einen eigenen Kurs, damit sie solche sogenannten „Rückführungen“ erleben können. Ich hingegen sehe das einfach so. Da bin ich meiner Demenz vielleicht sogar ein bisschen dankbar (lacht).

Hat die Demenz Ihr Leben auch eingeschränkt?

Rohra: Mit der Demenz hat ein völlig neues Leben für mich begonnen. Ich habe früher in bis zu neun Sprachen gedolmetscht. Von all den Sprachen spreche ich jetzt nur noch die beiden, die ich schon im Kindesalter gehört habe, weil die sind im Kopf gespeichert – also Deutsch und Englisch. Ich kann auch nirgendwo mehr alleine hin, weil meine Orientierung, meine Wahrnehmung sich verändert hat. Für mich ist immer alles neu, jeder Ort ist mir fremd. Den Computer kann ich schon einschalten und Emails lesen, ich bin auch auf Facebook. Aber mir ist es nicht mehr möglich, auf der Tastatur zu schreiben, ich kann die Buchstaben nicht umsetzen. Ich schreibe nur mehr mit der Hand.

Haben Sie so auch Ihr Buch „Ja zum Leben trotz Demenz!“ verfasst, das 2016 im „medhochzwei Verlag“ herauskam?

Rohra: So ist es, ich habe es mit der Hand geschrieben, und jemand anderer hat es dann für mich getippt und korrigiert.

Und trotz allem strahlen Sie eine unglaubliche Energie und Lebensfreude aus. Wie kommt das?

Rohra: Ich hadere nicht mit meinem Schicksal. Es ist, wie es ist, und ich erfreue mich an den kleinen Dingen. Ich habe nun auch andere Prioritäten. Der Leistungsdruck, der ja oft im beruflichen Alltag vorherrscht, ist verschwunden. Ich lebe jetzt sehr intensiv im Moment. Dabei habe ich auch neue Fähigkeiten an mir entdeckt. Ich bin meine eigene Friseurin. Ich male, hätte ich früher nie gemacht – ich hatte ja gar keine Zeit dafür.

Die Lebenserwartung steigt und damit werden künftig auch immer mehr Menschen an Demenz erkranken, Fachleute rechnen mit einer Verdoppelung der Fälle in Österreich bis zum Jahr 2050. Was halten Sie in diesem Zusammenhang von Konzepten wie Demenzdörfern, in denen Betroffene auf einem abgetrennten Areal leben?

Rohra: Ich bin gegen Demenzdörfer. Auch wenn ich einmal in einem fortgeschrittenen Stadium bin, muss man mir keine Fantasiewelt vorgaukeln. Viel lieber wäre es mir, wenn man sich neben mich setzt, mit mir in Fotoalben blättert und in Erinnerungen schwelgt. Davon profitieren im Übrigen beide Seiten. Wenn Sie einen Menschen mit Demenz über längere Zeit begleiten, kann ich Ihnen garantieren: Sie kommen gestärkt aus dieser Beziehung heraus und haben auch einiges über sich selbst gelernt.

Unter dem Titel „Care Farming“ arbeiten Demenzerkrankte heute etwa schon auf Bauernhöfen. Was sagen Sie dazu?

Rohra:: Demenz bedeutet ja keineswegs Unfähigkeit. Natürlich sollte man da auch immer das Alter und Befinden berücksichtigen, aber auch die Umgebung, in welcher der Mensch lebt. Wichtig ist, dass Demenzerkrankte nicht an den Rand der Gesellschaft geschoben werden. Da müssen neue Modelle erarbeitet werden, wie man Betroffene am besten integrieren kann – sowohl in die Gesellschaft als auch in den Arbeitsmarkt.

Sie sind am 19. April 65 Jahre alt geworden. Wollen sie sich nun bald in ihre Pension zurückziehen?

Rohra: Nein, ich strebe nicht meine Rente an (lacht). Ich habe noch Ressourcen, ich möchte noch was tun. Und ich liebe es in Kontakt zu sein mit Menschen, mit jungen Menschen. Ich betreibe auch Aufklärung an Universitäten, an Schulen. Und ich sage ja zum Leben trotz Demenz.

Daphne Hruby, Ö1-Wissenschaft

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