Hölderlins Utopie und Wahnsinn

Vor 175 Jahren ist Friedrich Hölderlin gestorben. Der Lyriker rebellierte früh, er endete im Wahnsinn. In seinem Werk entwarf Hölderlin die Utopie eines künftigen Zeitalters, in dem die Menschen ohne herrschende Klassen und im Einklang mit der Natur leben.

Friedrich Hölderlin, geboren am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar und gestorben am 7. Juni 1843 in Tübingen, war ein politischer Schriftsteller, der in seinem Werk die zeitgenössischen rigiden Mechanismen der Macht anprangerte.

Bereits während seiner Studienjahre im Evangelischen Stift in Tübingen klagte er über die unzumutbaren Bedingungen, die ein zeitgenössischer Bericht drastisch schildert: „Im Winter gingen wir noch in der Nacht zum öffentlichen Gebet, holten dann zitternd vor Kälte, Wasser aus dem Brunnen im Hof und reinigten uns, worauf die Lektionen begannen.“

Ö1 Sendungshinweis:

“Dichter in dürftiger Zeit. Zum 175. Todestag von Friedrich Hölderlin“: Salzburger Nachtstudio 6.6., 21 Uhr

Hölderlins Empörung fiel heftig aus: „Ich duld´es nimmer! ewig und ewig so/Die Knabenschritte, wie ein Gekerkerter/Die kurzen vorgemeßnen Schritte/Täglich zu wandeln, ich duld es nimmer!“ Den wütenden Versen folgte eine Tat, die ihm sechs Stunden Karzer einbrachte. Er schlug einem Lehrer den Hut vom Kopf, wobei er ausrief: „Nun weiß er, dass es seine Schuldigkeit ist, vor einem Stipendiaten den Hut abzunehmen!“

Gemälde wiedergegeben in Foto, Ernst Hader 1996

ÖNB

Gemälde von Hölderlin, wiedergegeben in Foto, Ernst Hader 1896

Französische Revolution: „Herrlicher Sonnenaufgang“

Hölderlins Akt der Auflehnung ist im Kontext der Französischen Revolution zu sehen, die von den Studenten des Stifts mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurden. Die Visionen einer neu anbrechenden Epoche, die „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ versprach, hinterließ bei den Studenten einen tiefen Eindruck, den Georg Friedrich Wilhelm Hegel als „herrlichen Sonnenaufgang bezeichnete: „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, dass sich der Mensch auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.“

Die Ereignisse der Französischen Revolution prägten nicht nur Hölderlins Studienjahre in Tübingen, sondern sind in seiner gesamten Dichtung präsent. Schon in seinen Jugendgedichten wandte er sich gegen die Tyrannei und Willkür der absolutistischen Fürsten in Deutschland und rief sogar zu einer gewaltsamen Beendigung der Repression auf: „Halt ein Tyrann! Es fährt des Würgers Pfeil/Daher! Halt ein! Es nahet der Rache Tag,/Daß er, wie ein Blitz die giftge Staude/Nieder den taumelnden Schädel schmettere!“

Anarchistische Staatskritik und Utopie

Im Tübinger Stift schloss Hölderlin Freundschaft mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Die zentralen Gestalten des deutschen Idealismus entfalteten ein gemeinsames Philosophieren – eine „Sym-Philosophie“ - auf höchstem Niveau. Das Ergebnis war ein kurzer Text von wenigen Seiten, der als „Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus“ Furore machte.

Die „Vereinigungsphilosophen“ träumten von einer Welt, in der der „Geist ins Leben übergeht“, einer Zukunft ohne politische Gewalt und ohne Abstraktionen des Rechts. „Wir müssen also über den Staat hinaus!“ heißt es in dem Manifest. „Die Maschine des Staates, der freie Menschen als ein mechanisches Räderwerk behandelt, solle aufhören.“

Sobald das mechanische Räderwerk des Staates aufhört - davon waren die Sym-Philosophen überzeugt, werde ein neues Zeitalter beginnen. Alles Bedrängende und Bedrückende werde abgeschüttelt, alle überkommenen Gegensätze überwunden; das Ewige mit dem Zeitlichen ebenso versöhnt, wie Vernunft und Sinnlichkeit, Theologie und Wissenschaft. Die Idee, die alles vereinige, sei die Schönheit.

Hölderlin - Der Dichter „in dürftiger Zeit“ - sah nunmehr seine Aufgabe darin, die Utopie eines künftigen Zeitalters zu entwerfen, in dem die neue allumfassende Gottheit der Schönheit herrscht. Solch eine Sphäre wäre der Schauplatz einer Lebensweise, die nicht durch Vorschriften von dogmatischen Lehrmeinungen jeglicher religiöser, politischer oder philosophischer Provenienz eingeengt würde; es wäre dies „eine Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen würde“.

Johann Christian Friedrich Hölderlin (undatiertes Archivbild)

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Undatiertes Archivbild

Reformation oder Revolution?

Reflexionen über eine radikale Veränderung der Gesellschaft finden sich auch in dem zweiteiligen Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“, der 1797 und 1799 publiziert wurde. Darin berichtet Hyperion von seiner Jugend in Südgriechenland und von dem wesens- und geistesverwandten Freund Alabanda, der ebenfalls von einer besseren, harmonischen Welt träumt.

Im Gegensatz zu Hyperion, der dieses Ziel auf friedlichem Weg erreichen will, ist Alabanda davon überzeugt, dass eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft nur mit Gewalt erreicht werden kann. Vorbild sind für ihn die revolutionären Jakobiner der Französischen Revolution. In diesem Disput geht es um die grundsätzliche Antagonismus, der auch für die Protagonisten der 68er-Protestbewegung charakteristisch war: Gewalt gegen das „Schweine-System“ (Rote Armeefraktion) oder „Marsch durch die Institutionen“ (Joschka Fischer).

Barbarisches Deutschland

Hyperion wählte aber einen dritten Weg: Der Rückzug auf sich selbst; das Dasein als Eremit. Bevor es jedoch dazu kam, unternahm er noch eine Bildungsreise nach Deutschland, die desaströs verlief. Bitter beklagte er sich in einem Brief, dass sein Ideal eines auf universelle Harmonie ausgerichteten Menschen in Deutschland verlorengegangen sei. Dominierend sei vielmehr der Typus des Fachidioten, der über den eng begrenzten Bereich seiner spezifischen Tätigkeit nicht hinaus blickt.

Zitat: „Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?“

Porträt von Hölderlin

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Porträt des Dichters

Empedokles: Todfeind aller einseitigen Existenz

Ein Pendant zur Romangestalt Hyperion findet sich in Hölderlins Trauerspiel „Der Tod des Empedokles“. Auch hier steht eine tragische Gestalt im Mittelpunkt, die sich in schroffem Gegensatz zur zeitgenössischen Gesellschaft befindet. Der vorsokratische Philosoph Empedokles lebt im Einklang mit dem absoluten Sein, das auch Hyperion anstrebte.

Dieses Leben im Optimum verleidet ihm den Umgang mit der banalen Lebenswelt der zeitgenössischen Gesellschaft in Agrigent, die - wie die barbarische Gesinnung der Deutschen - von Geschäftigkeit und zweckrationalem Denken geprägt ist. „Empedokles ist ein Todfeind aller einseitigen Existenz“, notierte Hölderlin, „und deswegen auch in wirklich schönen Verhältnissen unbefriedigt, unstet, leidend“. Schließlich wählt er den Selbstmord und stürzt sich in den Vulkan, um sich durch den freiwilligen Tod mit der Natur zu vereinigen.

36 Jahre Wahnsinn

Sowohl Hyperion und Empedokles sind - wie auch Hölderlin - fremd in ihrer jeweiligen Gesellschaft. Was bleibt, ist das Dasein des Eremiten, das Hyperion wählt, der Selbstmord, den Empedokles begeht, oder die endgültige Grenzüberschreitung Hölderlins in einen rund 36 Jahre andauernden Wahnsinn im Haushalt der verständnisvollen Tischlerfamilie Zimmer in Tübingen.

Manchmal schrieb er noch kurze Gedichte, die er mit Scardanelli signierte: „Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen/Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! Verflossen/April und Mai und Julius sind ferne/Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne!“

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft

Mehr zu dem Thema:

Literaturhinweise:

Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte, hg. von Jochen Schmidt, Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 4
Friedrich Hölderlin: Hyperion/Empedokles, hg. von Jochen Schmidt, Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 27
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente, hg. von D. E. Sattler, Luchterhand, eBook
Sekundärliteratur:
Dieter Burdorf: Friedrich Hölderlin, C.H. Beck Verlag
Ulrich Gaier: Hölderlin, UTB 1731
Rüdiger Görner: Hölderlin und die Folgen, J.B. Metzler Verlag
Rüdiger Görner: Hölderlins Mitte. Zur Ästhetik eines Ideals, iudicium verlag
Johann Kreuzer: Hölderlin-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, J.B. Metzler Verlag
Winfried Menninghaus: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Suhrkamp Verlag
Violetta Waibel: Fichte und Hölderlin, 1794-1800, Schöningh Verlag