„Die Mathematik baut mit Granit“

Spätestens seit seiner Auszeichnung mit der Fields-Medaille gilt der Österreicher Martin Hairer als Mathematiker von Weltrang. In einem Interview erzählt er, wie man die Schulmathematik von Ängsten befreien könnte - und was seine Gleichungen mit Granit zu tun haben.

Nicht selten wird beklagt, dass wir hierzulande keine Nobelpreisträger haben. Oder jedenfalls nicht mehr haben: Karl von Frisch und Konrad Lorenz waren die letzten, die mit einem naturwissenschaftlichen Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Und das ist mittlerweile 45 Jahre her. Der Befund stimmt schon, doch muss man in diesem Zusammenhang auch bemerken, dass sich Österreich von der wissenschaftlichen Provinzialisierung, der das Land nach dem Zweiten Weltkrieg anheimfiel, in vielen Bereichen erholt hat, ja mittlerweile sogar an der internationalen Spitze mitmischt. Dies auch in Disziplinen, die in den Statuten der Nobelstiftung keine Erwähnung finden. So haben sich einige der von Alfred Nobel nicht bedachten Fachgebiete ihre eigenen Preise geschaffen.

Der Sinn im Rauschen

Ein solcher „Nobelpreis“ alternativer Herkunft ist etwa die Fields-Medaille. Sie gilt neben dem Abelpreis als höchste Auszeichnung für Mathematiker und wird alle vier Jahre an Forscherinnen und Forscher unter 40 Jahren vergeben. 2014 erhielt sie der Österreicher Martin Hairer, geboren und aufgewachsen in Genf, mittlerweile am Imperial College London tätig, für seine Arbeiten über Differentialgleichungen. Die Gleichungen, die Hairer zu bändigen vermochte, stellten seine Kollegen viele Jahre vor fundamentale Probleme. Sie ließen sich niederschrieben, aber sie waren in gewisser Hinsicht sinnlos. Hairer fand einen Weg, den Sinn in mathematischen Ausdrücken zu finden, die wegen ihrer Zufallsnatur verrückt zu spielen schienen - aber es, wie zu beweisen war, doch nicht tun.

Mathematiker Martin Hairer

ORF/Czepel

Martin Hairer

Es gibt da ein Klischee, das man gemeinhin mit „reinen“ Mathematikern verbindet: das Bild vom zurückgezogenen Kauz oder Sonderling, wie Kurt Gödel es war oder heutzutage etwa der Russe Grigori Jakowlewitsch Perelman. Hairer jedenfalls ist das alles nicht: Er ist weltoffen, vielseitig interessiert, spricht drei Sprachen fließend und hat auch keine Berührungsängste gegenüber der Öffentlichkeit. Dies stellte er am 6. Juni an der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) unter Beweis, wo er auf Einladung von ÖAW und IST Austria einen Vortrag über seine Arbeit hielt. Am Rande des Vortrags stellte sich Hairer auch den Fragen der Journalisten.

science.ORF.at: Herr Hairer, nun ist es vier Jahre her, dass Sie mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurden. Hat das Ihr Leben verändert?

Martin Hairer: Früher habe ich eher Spezialvorträge gehalten. Jetzt werde ich öfter zu Vorträgen eingeladen, die sich an ein breites Publikum richten. Aber der Alltag hat sich nicht so sehr verändert. Ich bin immer noch an meinem mathematischen Institut tätig und arbeite nach wie vor mit meinen Doktoranden und Postdocs zusammen.

Manche Nobelpreisträger klagen, sie seien durch die Auszeichnung zu Wissenschaftsdiplomaten geworden. Haben Sie noch genug Zeit zum Forschen?

Martin Hairer: Ein bisschen weniger als zuvor, aber doch, es ist genug Zeit. Ein Unterschied ist auch, dass es bei der Fields-Medaille eine Altersgrenze gibt. Man muss unter 40 Jahre alt sein. Die Leute, die den Nobelpreis erhalten, befinden sich meistens in einem etwas fortgeschrittenen Alter. Wenn ich jetzt die Forschung aufgeben würde, dann wüsste ich nicht, womit ich die nächsten 30 Jahre füllen sollte!

Wie haben Sie die Mathematik als Schulfach erlebt?

Martin Hairer: Die Schulmathematik fand ich meistens eher langweilig, weil es zu einfach war. Mein Vater ist auch Mathematiker - ihm konnte ich natürlich immer Fragen stellen. Gegen Ende des Gymnasiums wurde es dann ein bisschen interessanter.

Für viele Schüler ist Mathematik hingegen ein Angstfach. Warum?

Martin Hairer: Vielleicht, weil man ihnen nie sagt, dass sie keine Angst davor haben sollten. Wenn die Angst vor der „schwierigen“ Mathematik kultureller Teil der Psyche ist, dann versucht man es erst gar nicht. Und es liegt wohl auch an der Art, wie Mathematik gelehrt wird. Im Unterricht erscheint Mathematik nicht sehr logisch - was komisch klingt, denn Mathematik ist natürlich ein Fach der Logik. Was ich meine: In der Schule wird nicht erklärt, warum etwas so ist, wie es ist. Meine Mitschüler haben immer wieder mal gesagt: Mathematik, das macht keinen Sinn. Das sind nur so komische Definitionen, die einfach vom Himmel fallen. Und die sollen wir uns jetzt merken und etwas damit machen. Aber warum ist es denn so?

Wie sollte man den Unterricht gestalten, damit sich das ändert?

Martin Hairer: Wenn man selbst entdeckt, warum zum Beispiel eine Definition natürlich ist, dann merkt man sich das viel einfacher. Das Problem sind die Prüfungen: Die Lehrer wollen im Verlauf des Semesters den ganzen Stoff durchbringen. Sie sagen nur: So ist es - und jetzt sind wir für die Prüfung bereit. Die Entdeckung eines Beweises kann man nicht prüfen.

Mathematiker Martin Hairer bei einem Vortrag

ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Martin Hairer bei seinem Vortrag an der Akademie der Wissenschaften

Ihre Dissertation haben Sie noch im Fach Physik - wenngleich mit einem bereits sehr mathematischen Thema - verfasst. Wann und warum fiel der Entschluss, sich ganz auf die Mathematik zu verlegen?

Martin Hairer: Dass mich die Mathematik mehr als die Experimentalphysik interessiert, wusste ich recht früh, schon in den ersten Studienjahren. Der Hauptgrund war: In der Mathematik konnte ich fühlen, dass ein Beweis für alle Ewigkeit gilt. Wenn etwas wahr ist, dann bleibt es wahr. In der Physik waren die Argumente immer wackeliger. Ich dachte mir: Wenn ich als Forscher eine Theorie aufbaue, kommt vielleicht in fünf Jahren ein anderer und zerstört die Theorie komplett. In der Mathematik kann man nichts zerstören, da baut man mit Granit.

Der Name Ihres Fachgebiets ist ein veritabler Zungenbrecher: „stochastische partielle Differentialgleichungen“. Worum geht es da, und warum ist dieses Gebiet so wichtig?

Martin Hairer: Gewöhnliche partielle Differentialgleichungen benötigt man, um Medien zu beschreiben, die von Zeit und Ort abhängig sind. Also zum Beispiel Meeresströmungen. Stochastische partielle Differentialgleichungen braucht man, wenn es noch eine zufällige Komponente gibt. Ein Beispiel: Wenn man einen Magneten erhitzt, verliert er ab einem bestimmten Punkt seine Magnetisierung. Man kann sich dann die Frage stellen: Was passiert in der Nähe dieser kritischen Temperatur? Und was man sieht, ist, dass die Magnetisierung sehr stark schwankt, dass sie zufällig schwankt. Das kann man mit solchen Gleichungen beschreiben.

Und das Problem, das Sie gelöst haben, war: Durch die Hinzufügung des Zufalls begannen die Gleichungen an manchen Stellen verrückt zu spielen. Kann man das so ausdrücken?

Martin Hairer: Ja, manche Gleichungen enthielten zum Beispiel das Quadrat der Lösung einer Ableitung. Die Lösung war aber so rau, dass sie keine Ableitung hatte. Es war überhaupt nicht klar, was die Gleichungen bedeuten. Es brauchte also eine Theorie, die zeigt, wie man solche Gleichungen interpretieren soll.

Sie haben gewissermaßen Sinn aus dem Rauschen extrahiert?

Martin Hairer: Das kann man so sagen.

Bitte noch um einen Kommentar zu einem kuriosen Fall aus einem ganz anderen Fach, nämlich der Zahlentheorie: Der Japaner Shinichi Mochizuki behauptet seit einigen Jahren, er hätte die berühmte abc-Vermutung bewiesen. Doch das Problem ist: Selbst ausgewiesene Experten auf diesem Gebiet verstehen den Beweis nicht.

Martin Hairer: Inhaltlich kann ich dazu nichts sagen, da dieser Fall viel zu weit von meinem Fachgebiet entfernt ist. Nach dem, was ich gelesen habe, scheinen sich die Experten mittlerweile mehr oder weniger einig zu sein, dass der Beweis noch gewisse Lücken aufweist. Was nicht bedeutet, dass das Ergebnis falsch ist. Das ist ziemlich sicher richtig.

Ist es nicht erstaunlich, dass selbst ausgewiesene Fachleute so große Verständnisschwierigkeiten haben?

Martin Hairer: Doch, das ist es.

Ihr Kollege Jeremy Quastel hat einmal über Ihre Arbeiten gesagt: Das liest sich wie die Botschaft von Aliens, wie die Botschaft einer intelligenteren Spezies. Fühlen Sie sich von Ihren Kollegen verstanden?

Martin Hairer: Ok, aber Jeremy versteht meine Arbeiten schon.

Wie viele Menschen auf der Erde verstehen Ihre Arbeiten wirklich?

Martin Hairer: Ich denke, ein paar Dutzend.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: