Zwei Filme mit Lücken

Nur zwei kurze Filme dokumentieren die Republiksgründung Österreichs vor 100 Jahren. Was auf den Straßen Wiens damals wirklich geschehen ist, zeigen sie aber nur zum Teil. Warum sie vieles verschweigen, ist bis heute unklar, sagt der Filmhistoriker Ingo Zechner.

12. November 1918. Es ist Nachmittag in Wien. Aufgespannte Regenschirme, ein Meer aus steifen, dunklen Hüten und Tabakrauch, der immer wieder aus den Menschenmassen aufsteigt. Mit dieser Sequenz von der Ringstraße vor dem Parlamentsgebäude öffnet der offizielle Bericht der staatlichen Filmstelle, der vom Staatsrat in Auftrag gegeben wurde. Es folgen Szenen von revolutionär gekleideten Menschen auf Statuen, Märschen vom Schwarzenbergplatz zum Parlament, eine Aufnahme, die die Menschenmassen vom Dach des Parlaments zeigt. Immer wieder taucht dabei ein großes Transparent mit der Aufschrift „Hoch die sozialistische ‚Republik‘“ in den Filmen auf - auch in dem zweiten Film, der auf Eigeninitiative von der privaten Sascha Filmindustrie aufgenommen wurde. Sie war die größte österreichische Filmproduktionsgesellschaft der Stummfilmzeit und der frühen Tonfilmzeit.

Staatliche Filmstelle: „Ausrufung der Ersten Republik in Wien“ (Quelle: Österreichisches Filmmuseum)

Es ist das einzige Transparent weit und breit, von einer Handvoll jubelnder Menschen gut sichtbar vor den Säulen des Parlaments aufgezogen. Wie der Historiker Ingo Zechner erklärt, passt dieses Transparent nicht zu den tatsächlichen Geschehnissen des 12. November. „Die Revolution, die man vor dem Parlament in den Filmen sieht, ist diejenige, die revolutionär gesinnte Sozialisten, die Kommunisten gefordert hatten: ein gewaltsamer Umsturz, wenn nötig, der zu einer sozialistischen Republik, zu einer Diktatur des Proletariats führt, die die Sozialdemokraten gerade nicht wollten“, so der Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft.

Tatsächlich wurde an diesem Nachmittag eine bürgerliche Republik ausgerufen. Die treibende Kraft hinter diesem Beschluss waren die Sozialdemokraten mit Unterstützung der Großdeutschen. Die Christlich-Sozialen haben wiederum bis wenige Tage vor dem Gesetzesbeschluss an der Monarchie festgehalten. Letztlich stimmten aber auch sie für die Republik Deutschösterreich.

Rote „Fahne“ statt rot-weiß-rot

Auch gegen Ende des kurzen offiziellen Films der staatlichen Filmstelle wird eine Szene gezeigt, die im ersten Moment eine Geschichte von einer revolutionären, gewaltvollen Republikgründung erzählen könnte. So wird unter dem Jubel einiger Männer vor dem Parlament ein zusammengeknoteter, roter Stofffetzen auf dem Fahnenmast gehisst. Anschließend zoomt eine Kamera auf die rote „Fahne“. „Die Fahne ist eindeutig eine Anlehnung an die russische Revolution“, erklärt Zechner.

Wie viele Menschen sich diese sozialistische „Republik“ tatsächlich wünschten, ist unklar. „Unter den Arbeitern war das ein sehr großes Thema. Für die Sozialdemokraten war es eine Daueraufgabe in der Ersten Republik, ihren Wählern und Wählerinnen zu erklären, warum die Revolution, die sich manche gewünscht hatten, in dieser Form nicht stattfinden wird, eine ganz andere aber schon längst stattgefunden hat.“ Warum nun vor allem der offizielle Film diese revolutionären, sozialistischen Sequenzen in den Mittelpunkt stellt, ist bis heute unklar.

Sascha Filmindustrie AG: „Die Proklamierung der Republik ‚Deutsch-Österreich‘“ (Quelle: Österreichisches Filmmuseum)

Rede Dinghofers nirgends aufgezeichnet

Die Vorgeschichte der Szene mit der roten Fahne zeigt der Film nicht. Dabei handelt es sich um den wohl wichtigsten Akt an diesem Nachmittag: die Rede des Großdeutschen Franz Dinghofer. Als Präsident der vorläufigen Nationalversammlung verkündete er um 16 Uhr die Gründung der Republik Deutschösterreich vor dem Parlament. „Unmittelbar danach sollte die neu eingeführte rot-weiß-rote Fahne als Staatsymbol der Republik gehisst werden.“ Dazu kam es aber eben nicht. Rotgardisten haben dem Parlamentsdiener die Fahne entrissen, den weißen Mittelteil herausgelöst und die beiden roten Streifen der Fahne verknotet. Der Film der staatlichen Filmstelle zeigt lediglich die Szene, die dem gewaltvollen Akt folgte - das Hissen der roten „Fahne“ vor dem Parlament. Der „Sascha-Film“ spart diese Szene ganz aus.

„Warum man diese Rede nicht sieht, ist wirklich erstaunlich. Man weiß nicht, ob die Bilder überhaupt aufgenommen oder später nicht verwendet wurden", erläutert Zechner. Letzteres würde vor allem beim offiziellen Film, der vom Staatsrat in Auftrag gegeben wurde, noch mehr die Frage nach der Intention aufwerfen. Ausschließen kann man aber, dass es ein Missgeschick war. Immerhin ging der Film durch die damals übliche staatliche Zensur und wurde schließlich laut Protokoll als jugendfrei eingestuft.

„Die spekulative Erklärung dazu wäre, dass man eine subtile, sozialistische Botschaft an die Arbeitermassen gesendet hat, indem man ihnen praktisch eine Republik als eine andere verkauft, als die, die sie tatsächlich war. Derzeit gibt es aber dafür keine Anhaltspunkte.“ Bei dem offiziellen Film kommt hinzu, dass die Massenveranstaltung und Ausrufung der Republik vor allem den Zweck hatte, den Beschluss durch die Masse zu legitimieren, so der Historiker. „Man wollte zeigen, dass die Menschen hinter diesem Beschluss stehen.“ Da der Film zwar die Menschenmassen, nicht aber die Rede zeigt, scheint der Zweck nicht erfüllt.

Chaos und Schießerei

Was man in den Filmen letztlich auch nicht sieht, ist der Sturm auf das Parlament. Dieser findet statt, nachdem sich die Repräsentanten des Staates zurückziehen, um die Sitzung im Inneren fortzusetzen. „Diese wurde ja nur kurz für die Verkündung unterbrochen“, so Zechner.
Berichten zufolge kam es zu einer Massenpanik mit Schüssen, bei der zwei Menschen starben. „Man weiß nicht genau, was abgelaufen ist, weil die unterschiedlichen Interessensgruppen versucht haben, die Ereignisse zu verschleiern oder anders darzustellen.“

So wollte man etwa in der „Arbeiterzeitung“ tags darauf den Eindruck vermeiden, die Sozialdemokraten würden die Verantwortung für diese Ereignisse tragen. „Es ist von Wirrköpfen die Rede, von unverantwortlichen Personen, einem Durcheinander. Auf der anderen Seite werden die, die das Chaos ausgelöst haben, scharf angegriffen“, so Zechner. „Manche Augenzeugen berichteten beispielsweise, die am Dach des Parlaments stationierte Kamera hätte ausgesehen wie ein Maschinengewehr. Daraufhin verbreiteten sich entsprechende Gerüchte, was für Unruhe gesorgt habe.“ Als am Parlamentsgebäude die Rollläden heruntergelassen wurden, klang es für viele wie Schüsse, erzählt Zechner. Daraufhin begannen Menschen in der Menge zu schießen. „Einige revolutionär Gesinnte waren bewaffnet. Sie rechneten damit, dass es zu einem monarchistischen Restaurationsversuch kommen würde. Dann haben sie zu schießen begonnen.“ Andere wiederum sprechen von einem Putschversuch der Rotgardisten, die das Parlament gestürmt haben. Das wiederum hatte zur Folge, dass die Rollläden heruntergelassen wurden.

Die beiden Filme sind voller Lücken und Rätsel - und gerade deshalb für die Forschung weiter interessant, meint Zechner. „Anhand dieser Filmbeispiele könnte man sich aber generell die Frage stellen, was Filme zeigen und was nicht. Sie sind beinah idealtypische Beispiele dafür, dass sich Filme sehr schlecht dazu eignen, um Ereignisse zu illustrieren, von denen man glaubt zu wissen, wie sie stattgefunden haben.“

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

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