Mehr ist nicht immer besser

Nicht alles, das medizinisch gemacht werden kann, ist sinnvoll. Im Gegenteil: Operationen und Medikamente können auch schaden. Mediziner fordern eine bessere Ausbildung von Ärzten und Pflegepersonal - und mehr Selbstbewusstsein bei den Patienten.

Fragt man Thomas Frühwald, Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, nach einem Beispiel für einen häufigen, aber meist unnötigen Eingriff bei alten Menschen, erwähnt er sofort den Harnkatheter. Rein medizinisch betrachtet sollte er nur dann gesetzt werden, wenn die Blase nicht mehr entleert werden kann. In der Realität werde er aber meist eingesetzt, weil das die Pflege erleichtert, der betroffene Patient nicht mehr aufgesetzt oder zur Toilette begleitet werden muss.

Direkter Weg für Infektionen

Das sei nicht nur unnötig, sondern sogar gefährlich: „Der Katheter bedeutet fast automatisch eine Harnwegsinfektion. Er ist der direkte Weg für Keime in die Blase, die Folge sind Blasenentzündungen, die über die Harnleiter bis in die Niere aufsteigen können. Das kann schwerwiegende Folgen haben.“ Der Harnkatheter ist nur eines von fünf Beispielen für mögliche, aber nicht unbedingt sinnvolle Behandlungen im Bereich der Geriatrie, auf die die Fachgesellschaft gemeinsam mit dem Department für evidenzbasierte Medizin an der Donau-Uni Krems und der Medizin-Universität Graz in einer neuen Broschüre hinweisen.

Broschüre:

Die Top 5: Geriatrie“, entstanden im Rahmen des Projekts „Gemeinsam gut entscheiden

Ein anderes sind Beruhigungsmittel für Menschen mit Demenz: „Sie werden immer wieder verabreicht, um Menschen mit leichter oder fortgeschrittener Demenz zu beruhigen oder Verhaltensauffälligkeiten zu kontrollieren. Aber wenn jemand keine psychiatrische Diagnose hat, sind diese Mittel völlig unangebracht.“ Thomas Frühwald nennt das Beispiel der Benzodiazepine, auch bekannt unter dem Markennamen „Valium“, die schlaffördernd und entkrampfend wirken: „Sobald ihre sedierende Wirkung nachlässt, wird man umso verwirrter. Benzodiazepine lösen Verwirrtheit aus und verschlechtern die Gehirnleistung.“

Globale Initiative „Choosing Wisely“

Das Projekt „Gemeinsam gut entscheiden“ basiert auf dem im anglo-amerikanischen Raum schon länger bekannten Ansatz „Choosing Wisely“. Anna Glechner, Leiterin des Ärzteinformationszentrums an der Donau-Uni Krems: „In den USA hat ein Arzt 2010 festgestellt, dass es zwischen den Regionen große Unterschiede gibt, welche und wie viele Tests und Therapien gemacht werden. Er hat daraufhin die medizinischen Fachgesellschaften aufgerufen, Top-5-Listen zu erstellen mit medizinischen Eingriffen, die wenig bis gar keinen Nutzen haben bzw. sogar schaden können.“

Eine Pflegerin hält die Hand einer alten Frau.

dpa/Oliver Berg

Mit mehr „Zuwendungszeit“ ließe sich so mancher Eingriff vermeiden, so die Fachgesellschaft für Geriatrie.

In den USA arbeitet „Choosing Wisely“ heute mit 70 Fachgesellschaften zusammen, in 19 Ländern wurden ähnliche Initiativen gegründet. In Österreich ist die Broschüre mit den „Top 5" der Geriatrie die erste aus dem Projekt resultierende Publikation, 2019 meldet sich die Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin“ zu Wort. Ein klassisches Beispiel aus diesem Bereich: Antibiotika bei einer viralen Infektion - sie sind nicht nur nutzlos, sondern erhöhen auch das Risiko einer Resistenz.

Mehr hinterfragen

Wie oft in Österreich Medikamente und Eingriffe ohne Nutzen verordnet werden, weiß man nicht, so Thomas Frühwald. Es gibt keine gesamthafte Analyse, nur Einzelfallauswertungen. So wurde 2016 eine Studie zu Niederösterreich veröffentlicht, laut der in einem Jahr 435 Tests oder Therapien in Anspruch genommen wurden, deren Anwendung fragwürdig ist. Eine österreichweite Untersuchung gibt es nicht. Das Projekt „Gemeinsam gut entscheiden“ möchte für die Thematik sensibilisieren - auch Ärzteschaft und Pflegepersonal, so Thomas Frühwald: „Man widmet sich diesem Thema in der Ausbildung relativ wenig. Vor allem, wenn alte Menschen akut medizinisch betreut werden müssen, gibt es wenig geriatrische Kompetenz.“

Ö1-Sendungshinweis:

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag und ein Studiogespräch im Mittagsjournal am 19.12.2018.

Gleichzeitig möchten die Medizinerinnen und Mediziner den Patienten und ihren Angehörigen Mut machen. „Sie sollen fragen, ob es keine Alternative gibt, ob vielleicht nicht-pharmakologische Maßnahmen existieren, die das gleiche Ziel erreichen. Und ja, sie sollen sich eine Zweitmeinung holen und von mir aus auch eine Drittmeinung.“ Geriater Thomas Frühwald fordert mehr „Zuwendungszeit“ in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Ordinationen, um Beschwerden von Menschen tatsächlich auf den Grund gehen zu können. Dafür brauche es aber auch das Bewusstsein, dass Operationen und Medikamente nicht unbedingt ein tauglicher Ersatz dafür sind.

Elke Ziegler, Ö1-Wissenschaft

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