Gibraltar: Transithafen für Flüchtlinge

Seit 300 Jahren gehört Gibraltar zu Großbritannien – immer kritisch beäugt von Spanien. Der winzige Stadtstaat am Mittelmeer ist ein wichtiger Transithafen für Flüchtlinge, und das schon sehr lange, wie der Historiker Christian Cwik in einem Gastbeitrag schreibt.

Das nur 6,7 Quadratkilometer große britische Überseeterritorium Gibraltar an der Südspitze der iberischen Halbinsel rückt alle Jahre ins Licht der Öffentlichkeit. Dafür verantwortlich ist meist die spanische Regierung, die seit dem militärischen Verlust Gibraltars am Eingang der gleichnamigen Meeresenge im Jahre 1704 um dessen territoriale Wiedereingliederung kämpft.

Porträtfoto von Christian Cwik

Christian Cwik

Über den Autor:

Christian Cwik hat Geschichte und Philosophie an der Universität Wien studiert. Als Gastprofessor unterrichtete er in Caracas, Cartagena de Indias, Sevilla und Havanna und war Vertretungsprofessor an den Universitäten Köln und Erfurt. Zudem unterrichtete er an den Universitäten Wien, Graz sowie an der TU Dresden. 2013 wurde er als Professor für Atlantische und europäische Geschichte an die University of the West Indies in Trinidad and Tobago berufen.

Die Drohung von Regierungschef Pedro Sánchez im November 2018, den Brexit-Vertrag wegen der Gibraltar-Frage nicht zu unterzeichnen, brachte die Kolonie für einige Tage in die Schlagzeilen der Weltpresse. Diesmal ging es jedoch weniger um die Aufforderung der Rückgabe als um ökonomische Divergenzen, die durch den Brexit an der 1,2 Kilometer langen Landgrenze entstehen könnten. Die Tatsache, dass Gibraltar der zweitgrößte Arbeitgeber des andalusischen Landkreises Campo de Gibraltar (rund 250.000 Einwohner) ist, verdeutlicht die Komplexität der Thematik. Morgens und abends passieren täglich etwa 12.000 Pendler die Grenze. Seit dem Beitritt des UK zur Europäischen Gemeinschaft 1973 ist die britische Kolonie zwar offiziell Gebiet der EG (bzw. seit 1992 der EU), jedoch nicht Mitglied der Zollunion, der Gemeinsamen Agrarpolitik, der Eurozone sowie des Schengenraums, wodurch sich Gibraltar schon in der Vergangenheit auf verschiedenen Ebenen der Kontrolle Brüssels entzog. Hinzu kommt die besondere interkontinentale sowie intermaritime Position zwischen Mittelmeer und Atlantik, die seit der Antike den Wirtschaftsraum als „Frontier“ geprägt haben.

Die Distanz zwischen Gibraltar und Afrika beträgt nur 14 Kilometer. Der Austausch zwischen den Kontinenten ist eine quasi natürliche Konsequenz dieser Nähe. Seit Jahrhunderten bestimmen Schmuggelhandel (v. a. mit Drogen und Menschen), Glückspiel (v. a. online-gambling) sowie Offshore-Banking die Wirtschaft Gibraltars. Der Mythos der Festung Gibraltar, die völlig abgeschottet von der Außenwelt nur ihren britischen Herren dient, entspricht in keiner Weise der Realität, weder der historischen noch der gegenwärtigen.

Blick zurück

Für den Verlust Gibraltars war ausgerechnet eine Entscheidung verantwortlich, die im Zuge des Spanischen Erbfolgekriegs 1704 in Wien getroffen wurde. Erzherzog Karl (der Vater Maria Theresias) wollte den Felsen aus militärstrategischen Gründen für das Habsburgerreich erobern und forderte die Hilfe der englischen und niederländischen Bündnispartner an. Auch wenn die habsburgische Flagge bis 1713 (Friede von Utrecht) über dem Felsen wehte, überließen die Habsburger die Verwaltung der Garnison den Briten. Diese säuberten die kleine Halbinsel von spanischen Soldaten und vertrieben die Zivilbevölkerung ins angrenzende Hügelland, wobei ihre Nachfahren bis heute die Rückkehr fordern.

Der Affenfelsen von Gibraltar

AFP

Fels von Gibraltar

Das gesamte 18. Jahrhundert hindurch blieb die britische Kolonie Gegenstand kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Spanien und dem UK. Die erfolglose spanisch-französische Belager-ung (Great Siege) während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs zementierte den Mythos von der Uneinnehmbarkeit der Festung ein.

Der Ausbau der Verteidigungsanlagen verschlang nicht nur Unsummen, sondern veränderte auch nachhaltig den Charakter der Kolonie. Soldaten mussten mit Lebensmitteln versorgt werden und ein Dach über dem Kopf haben, Handwerker zur Stelle sein und Hafenarbeiter die Schiffe abfertigen. Die meisten Arbeitskräfte waren andalusische Grenzgänger aus La Linea, Campamento, San Roque, Algeciras und Torreguadiaro. Hinzu kamen Genuesen und Neapolitaner sowie Migranten aus den britischen Kolonien im Mittelmeer und aus Indien.

Andalusische Connections

Mit der Zeit ließen sich viele spanische Grenzgänger in Gibraltar nieder. Nach ihrer Einbürgerung blieben sie jedoch mit ihren Familien in Spanien in engem Kontakt. Am Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Tagespendler an, und 1908 wurde die Errichtung eines Grenzzaunes („La Verja“) von London veranlasst. Die umstrittene Verja verläuft seither durch die Mitte einer 1838 festgelegten neutralen Zone. Doch auch nach 1908 blieb der Grenzverkehr äußerst lebendig, wie mir der 103-jährige Juan (John) de Dios Sciacaluga in einem Interview versicherte. Fast täglich besuchte er in den 1930er Jahren seine Freunde in San Roque.

Der Platzmangel in Gibraltar veranlasste viele Einwohner sich in Andalusien niederzulassen. Bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936 lebten in der Grenzstadt La Linea rund 2.500 britische Untertanen, für die Vorkehrungen im Falle einer Evakuierung getroffen werden mussten. Trotz des Kriegs General Francos gegen die gewählte Regierung Spaniens sympathisierte die britische Kolonialregierung und die katholische Kirche Gibraltars anfänglich mit den Putschisten. Die Evakuierung britischer Staatsbürger war somit nicht notwendig, stattdessen flüchteten rund 5.000 Spanier sowie einige internationale Brigadisten vor der Putschistenarmee und ihren faschistischen Verbündeten über die Grenze. Sie wurden in Flüchtlingslagern direkt an der Grenze untergebracht. Über 4.000 spanische Flüchtlinge wurden zwischen 1938 und 1941 evakuiert, rund 500 blieben bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Gibraltar interniert.

Flüchtlingscamp für spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in Gibraltar (Grenze zu Spanien)

Andrew Schrembri Files, 1a, Privatarchiv, Gibraltar

Flüchtlingscamp für spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in Gibraltar

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden Zivilbevölkerung (ca. 20.000) und Flüchtlinge zur Last für die militärische Planung im Falle einer Verteidigung des Felsens gegen die deutsche Wehrmacht und ihre Verbündeten. Unter den Flüchtlingen befanden sich auch all jene, die sich Chancen auf ein Visum für Großbritannien oder eine britische Kolonie erhofften. So gelangte z. B. der Wiener Jude Paul Reisz gemeinsam mit seiner Familie im November 1938 nach Gibraltar, um sich von dort nach Südafrika einzuschiffen. Nach seiner Inhaftierung als feindlicher Ausländer in Gibraltar im Mai 1940 beschreibt Reisz in mehreren Briefen seine Haft im KZ Dachau, die misslungene Flucht nach Südafrika und sein Leben als Flüchtling in der britischen Kolonie.

Chaos und Evakuierungen

In London begann man bereits während des Spanischen Bürgerkriegs Pläne zur Evakuierung der Zivilbevölkerung zu schmieden, die jedoch wieder verworfen wurden. Mit Kriegsbeginn gegen das Deutsche Reich gewannen diese Pläne wieder an Bedeutung, v. a. weil über einen Kriegseintritt Francos an der Seite Hitlers spekuliert wurde. Doch Francos rasche Neutralitätserklärung legte die Evakuierungspläne vorerst wieder auf Eis.

Dies änderte sich mit dem Blitzkrieg. Die Dokumente im Nationalarchiv Gibraltars dokumentieren die Hektik, mit der London nach willigen Aufnahmeländern suchte. Aufgrund der geographischen Nähe entschied man sich schließlich für Französisch-Marokko und gegen Algerien, Madeira, Ghana, Süd-afrika, Guyana, Trinidad, Grenada, St. Lucia und Jamaika. Von Ende Mai bis Mitte Juni 1940 wurden fast 14.000 Zivilisten nach Casablanca evakuiert. Nach der Niederlage Frankreichs fiel jedoch die Verwaltung Französisch-Marokkos in Vichy-Hände und General Petain verlangte von London den sofortigen Abzug der „evacuees“ im Austausch für französische Kriegsgefangene.

Portugiesische Karikatur über die britische Kontrolle der Straße von Gibraltar "Die Freiheit der Meere auf englische Art"

Andrew Schrembri Files, 1a, Privatarchiv, Gibraltar

Portugiesische Karikatur über die britische Kontrolle der Straße von Gibraltar „Die Freiheit der Meere auf englische Art“

Wenige Tage später erfolgte der Rücktransport der „evacuees“ nach Gibraltar, wo ihnen jedoch Gouverneur Liddell die Landung vorerst verweigerte, da sie nur „nutzlose Mäuler“ wären. An diesen Tagen im Juli 1940 drohte Gibraltar im Chaos unterzugehen, da es zudem von zehntausenden alliierten Soldaten überschwemmt wurde, die nach dem Sieg der Wehrmacht in Frankreich aus den Häfen von Sete und Marseille evakuiert worden waren.

Erst nach den Zusicherungen Churchills 11.000 „evacuees“ in London aufzunehmen, ließ sie Gouverneur Liddell für den Transit an Land. Zusätzlich vereinbarte London mit dem portugiesischen Diktator Salazar die Evakuierung von 2.000 Freiwilligen nach Madeira. Gegen Ende August 1940 war die Evakuierung von etwa 13.000 Menschen aus Gibraltar nach Großbritannien und Madeira abgeschlossen. Den Forderungen Liddells insgesamt 16.000 Zivilisten zu evakuieren, kam die Regierung in London nicht nach. Neben diesen offiziellen Evakuierungen flüchteten Viele auch in die internationale Zone von Tangier sowie in die spanischen Provinzen von Cádiz und Malaga.

Nach dem Krieg aus der Diaspora zurück

Im September 1940 entschied sich Churchill die in London untergebrachten Gibraltarer nach Jamaika und Trinidad zu evakuieren. Der deutsche Angriff auf England und der strenge englische Winter dienten seiner Regierung als Rechtfertigung. Der Krieg im Atlantik verhinderte jedoch diesen Plan. Stattdessen ordnete man im Oktober 1940 die Evakuierung von rund 1.500 Zivilisten nach Jamaika an. Trotz der restriktiven Politik blieb die Grenze für spanische Pendler auch nach Kriegsbeginn geöffnet. Rund sechs- bis siebentausend Personen passierten täglich die Grenze zwischen Spanien und der Kronkolonie (zu Land und zu See), was eine lückenlose Überwachung unmöglich machte.

Deutsche Kriegsgefangene der U-95 bei ihrer Festnahme in Gibraltar im November 1941

Andrew Schrembri Files, 1a, Privatarchiv, Gibraltar

Deutsche Kriegsgefangene der U-95 bei ihrer Festnahme in Gibraltar im November 1941

Zwischen 1944 und 1950 kam es zur organisierten Wiederansiedelung der Bevölkerung am Felsen von Gibraltar. Insgesamt kehrten 16.000 Menschen aus dem temporären Exil zurück. Der überwiegende Teil aus England und Nordirland. Die Jahre in der Diaspora verfestigten die Beziehungen zu London und verschlechterten das Verhältnis zu Spanien, das bis 1975 von General Franco regiert wurde. Dieser erhoffte sich von einem Volksentscheid in Gibraltar 1967 den Beitritt zu Spanien, der jedoch nur 44 Stimmen erhielt, worauf Franco 1969 die Grenze schloss.

Bis zur Wiedereröffnung der Grenze vergingen 16 Jahre (1985) in denen Gibraltar noch näher an das UK heranrückte. Die Mehrheit der gegenwärtigen politischen Amtsträger wuchsen in dieser Zeit auf, die wie keine andere Periode in Gibraltars Geschichte der Kolonie ihren Stempel aufgedrückt hat. Der Glaube, auch ohne EU überleben zu können, ist in Gibraltar weit verbreitet, hängt allerdings stark vom wirtschaftlichen Zustand des UK nach dem Brexit ab. Der Ruf nach Unabhängigkeit wird zunehmend lauter.

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