Überleben auf dem „Weißen Mars“

Während in Österreich die längsten Tage bevorstehen, ist in der Antarktis die Sonne völlig vom Horizont verschwunden. Wie man bei Temperaturen bis minus 80 Grad überleben kann, weiß die Kärntner Ärztin Carmen Possnig - sie war ein Jahr lang auf dem „Weißen Mars“.

Noch ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, bevor die Weltraummedizinerin Carmen Possnig ihren Fuß vor die schwere Metalltür der Forschungsstation Concordia setzt. Um Blutproben im Außenlager der Forschungsbasis einzufrieren, muss Possnig fast täglich hinaus in die Eiswüste. Davor legt sie einer speziellen Technik folgend Schicht für Schicht ihrer Antarktisausrüstung an. Beim Anziehen muss sie sehr sorgfältig vorgehen, bis sie das schützende Gewand an hat, dauert es rund 15 Minuten.

Die Weltraummedizinerin Carmen Possnig in der Antarktis-Forschungsstation Concordia

C.Verseux © PNRA/IPEV

Possnig in kompletter Montur

Schon die geringste Abweichung beim Anlegen der Kleidung kann fatal werden. Ist die Kleidung an einer Stelle durchlässig, kann das innerhalb weniger Augenblicke Erfrierungen hervorrufen. Niedrige Luftfeuchtigkeit und extreme Trockenheit beanspruchen die menschliche Haut, die Folge sind offene Lippen, trockene Schleimhäute, rissige Finger. Die Wundheilung ist aufgrund der mangelnden Sauerstoffsättigung und Höhenexposition gehemmt, offenen Stellen verheilen oft monatelang nicht. Beim Einsatz von spitzen Forschungsgegenständen oder bei der Küchenarbeit ist daher besondere Vorsicht geboten.

Drei Lagen Funktionsunterwäsche

Wenn Carmen Possnig sich für die Extremtemperaturen kleidet, beginnt sie mit bis zu drei Lagen Funktionsunterwäsche und ganz dicken Socken. Den Oberkörper bedeckt sie mit mehreren Vliespullovern, darüber schlüpft sie in einen speziellen Overall. Die Polarforschung sucht nach beständigen Verbesserungen bei Materialien für die Ausrüstung. Vor kurzem wurde von französischen Wissenschaftlern ein neues Overall-Modell mit wichtiger Optimierung in der Oberflächenstruktur entwickelt. Diese soll die Träger noch besser vor der eisigen Kälte schützen, wie Possnig im „Newton“-Interview erzählt:

Nachdem der Körper richtig eingepackt ist, folgt die spezielle Gesichtsbedeckung. Zwei Balaklavas schützen das Gesicht, darüber kommt noch eine dicke Haube. Besonders wichtig ist die entsprechende Schutzbrille für die Augen. Im Winter dient sie vor allem, um Wimpern und Augen vor Kälte und Wind abzuschirmen, ungeschützt frieren Augen und Wimpern in nur wenigen Minuten ein. Während der Sommermonate bedarf es einer Skibrille mit verspiegelten Gläsern, welche vor der direkten Sonneneinstrahlung schützt.

Fünf Handschuhe gegen Einfrieren

Auf den Füßen werden Spezialschuhe mit sehr hohen Sohlen getragen, um die Füße weitmöglich vom Boden zu isolieren. Verschiedene Wärmeeinlagen werden in die Schuhe gelegt, je kälter es ist, desto mehr Einlagen kommen in die Stiefel.

Sendungshinweis:

Astronauten im Eis - Überleben in der Antarktis: Newton, 18.5., 18.30 Uhr, ORF 1.

Sehr empfindlich sind die Hände, diese müssen mit fünf Handschuhpaaren einpackt sein. Bei ganz extremen Temperaturen hilft sie sich damit, batteriebetriebene Heizhandschuhe und darüber noch große Fäustlinge anzuziehen. Die Hände kann sie durch die vielen Schichten nur sehr eingeschränkt bewegen. Bei Forschungsarbeiten im Freien muss Carmen Possnig manchmal eine Handschuhschicht abnehmen, das ist jedoch oft problematisch, denn Erfrierungen sind nicht zu vermeiden.

Friert ein Finger ein, ist das in der Kälte nicht sofort bemerkbar. Erst beim Ausziehen der Handschuhe fühlt es sich zuerst merkwürdig an, als würde der gefrorene Finger nicht zur Hand gehören. Spätestens beim Auftauen des gefrorenen Körperteils breiten sich unbeschreibliche Schmerzen aus.

Die Weltraummedizinerin Carmen Possnig in der Antarktis-Forschungsstation Concordia

C.Verseux © PNRA/IPEV

Possnig macht sich bereit

Gefährlich: Laufen in der Schneewüste

In der Forschungsstation gibt es einen Fitnessraum, wo die Forscher regelmäßig ihre Trainingseinheiten durchführen, um körperlich fit zu bleiben. Körperliche Anstrengung ist auf dem antarktischen Hochplateau um ein vielfaches schwerer, Bewegung bei Sauerstoffmangel strengt den Körper in dieser Höhenlage sehr an.

Nach neun Monaten Winter hat Carmen Possnig gemeinsam mit einem Kollegen Versuche unternommen, bei antarktischen Sommertemperaturen um minus 35 Grad in der Schneewüste laufen zu gehen. Temperaturschwankung und Tempowechsel können aber lebensgefährlich werden. Die Lunge kann die eiskalte Luft, die durch die starke Atmung in die Lungen gelangt, nicht aushalten und friert.

Forschungsmission am „Weißen Mars“

Was brachte Carmen Possnig dazu, ein Jahr freiwillig an diesem unwirtlichen Ort am südlichen Ende der Welt in absoluter Abgeschiedenheit zu leben?

Seit 2005 entsendet die European Space Agency einen Forschungsmediziner zur Concordia-Station in die Antarktis. Im November 2017 hat die Weltraummedizinerin Possnig ihr Forschungsjahr als Teil eines 13-köpfigen Wissenschafts- und Versorgungsteams auf der Concordia begonnen. Ziel ihrer Forschung war, die Anpassungsfähigkeit von Menschen in extremen Umgebungen zu untersuchen. Die von ihr gewonnenen Erkenntnisse sollen beitragen, Langzeitweltraumflügen vorzubereiten.

Erreichbar ist die Concordia Station - die Umgebung wird von der Crew liebevoll „Weißer Mars“ genannt - nur während der antarktischen Sommermonate. Im Zeitraum zwischen Februar bis November ist Flugverkehr nicht möglich: Treibstoff friert ab Temperaturen unter minus 52 Grad, niedriger Luftdruck und antarktischer Wind verhindern die Anreise. Und bei manchen Wetterlagen sind die Sichtverhältnisse derart eingeschränkt, dass Himmel und Boden nicht voneinander zu unterscheiden sind. Die flugfreie Zeit bedeutet für die Forschungsmitglieder der Concordia, dass sie neun Monate nur auf sich gestellt sind. Auch im äußersten Notfall sind sie ganz sich selbst überlassen, Hilfe von außen oder Evakuierungsmöglichkeit während des Winters gibt es keine.

Newton-Sendung „Überleben in der Antarktis“:

Keine Lebewesen, außer Menschen

Lebewesen können in dieser unwirtlichen, schutzlosen Umgebung inmitten der Ostantarktis nicht existieren. Sogar Viren, Bakterien und Pilze, die für den Menschen pathogen werden könnten, haben in diesem Klima keine Überlebenschancen. Geräusche, Farben und Gerüche sind in den kilometerdicken Eislandschaften kaum zu vernehmen. Herabgesetzte Sauerstoffsättigung, völlige Isolation, monatelange Dunkelheit, niedrige Luftfeuchtigkeit und Extreme verlangen physisch und psychisch Enormes von den stationierten Forschern und Forscherinnen ab. Genau diese sind ideal, um auf der Erde den Flug zu und den Aufenthalt auf einem fremden Planeten zu simulieren.

Während ihres Aufenthaltes hat die Weltraummedizinerin Possnig untersucht, wie sich die extremen Lebensumstände auf ihre zwölf Forschungskollegen auswirkten. So testete sie in einem Simulator, der die Verhältnisse im russischen Raumtransporter Sojus simuliert, Veränderungen bei Reaktionsfähigkeit, Denk- und Erinnerungsvermögen. Die jeweiligen Crewmitglieder mussten bei diesen Tests verschiedene Szenarien durchspielen und beispielsweise in einem Computerspiel versuchen, die Raumkapsel manuell und visuell an die Weltraumstation ISS anzudocken. „Die Fähigkeiten und Reaktionsvermögen haben sich über die Monate verschlechtert", so Possnig.

Körperliche Aktivitäten sind bedingt durch die Höhe viel anstrengender als auf Seehöhe, verminderte Sauerstoffzufuhr und das Ausbleiben des Zeitgebers Tag- Nachtrhythmus führen zu anhaltendem Schlafentzug, permanenter Müdigkeit und Niedergeschlagenheit. Diese Aspekte wirken sich nachweislich auf die kognitiven Fähigkeiten aus.

Die Weltraummedizinerin Carmen Possnig in der Antarktis-Forschungsstation Concordia

C.Verseux © PNRA/IPEV

Possnig beim Verlassen der Forschungsstation

Immunzellen sind weniger aktiv

Weiters hat Carmen Possnig untersucht, wie sich das Immunsystem verändert und wie sich der Körper an die extreme Höhe anpasst. Hierfür hat sie regelmäßig Blut- und Urinproben genommen sowie Herzfrequenz, Blutdruck, Sauerstoffsättigung und Temperatur bei den Teammitgliedern und sich selbst gemessen. Wichtig war herauszufinden, wie sich diese sterile Umgebung auf den Körper auswirkt und was mit den Zellen passiert, wenn sie keine neuen Reize bekommen. Possnigs Analysen zeigen, dass die Immunzellen bei einer Unterforderung des Immunsystems an Aktivität verlieren.

Man kann sich das wie bei einem Muskel vorstellen, beschreibt Possnig. „Sobald das Immunsystem nichts zu tun hat und Zellen nicht mehr trainiert werden, fährt das Immunsystem herunter.“ Einige der Blutproben hat Possnig direkt in ihrem Labor in der Forschungsstation untersucht, andere wiederum musste sie außerhalb der Station einfrieren, da manche Proben zu einem späteren Zeitpunkt in Europa ausgewertet werden.

Anhand der Blutuntersuchungen stellte Possnig fest, dass sich der Körper nie komplett an die extreme Umgebung anpassen kann. Sobald der Körper wieder auf Seehöhe kommt, normalisierten sich die Blutwerte wieder und die Symptome verschwanden mit der Zeit.

Hemma Marlene Prainsack, Susanne Kainberger, Lukas Wieselberg, ORF-Wissenschaft

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