Greta Thunberg in einem gelben Regenmantel mit Kapuze und einer „Fridays for Future“-Maske
AFP – JONATHAN NACKSTRAND
AFP – JONATHAN NACKSTRAND
Kulturwissenschaft

Der Autist als idealer Mensch der Gegenwart

Menschen mit Autismus wurden Jahrzehnte stigmatisiert. Heute gelten sie als Menschen, die in einer komplexen und von Technologie geprägten Welt den Durchblick behalten. Ein Forschungsprojekt beschreibt, wie es zu diesem Wandel kam und was er über die Gesellschaft aussagt.

„Es macht dich anders und lässt dich anders denken.“ Das sagte die Klimaaktivistin Greta Thunberg in einer Sendung des US-amerikanischen Fernsehsenders CBS. Sie sprach über ihr Asperger-Syndrom – eine Form des Autismus. Greta Thunberg geht nicht nur offen mit ihrer Diagnose um. Vielmehr sieht sie ihr Anderssein als Superkraft, wie sie immer wieder in sozialen Medien und Interviews betont. Dadurch könne sie sich beispielsweise ohne große Mühe stundenlang durch Studien und Texte wühlen. Sie versteht die Klimakrise aber nicht nur, sie handelt konsequent danach. „Ich kann diese Doppelmoral der anderen nicht nachvollziehen. Viele sagen, der Klimawandel ist schlimm, machen dann aber trotzdem normal weiter“, sagte die damals 16-Jährige.

Asperger-Syndrom als „Mainstream“

Überdurchschnittlich intelligent, rational distanziert, losgelöst von sozialen Normen, kein gefälliges Lächeln, kein Um-den-heißen-Brei-reden: Laut der Kulturwissenschaftlerin und Publizistin Novina Göhlsdorf verbinden das nicht nur viele Menschen mit Greta Thunberg. So stellen sich heutzutage auch einige den typischen Autisten, die typische Autistin vor. „Mit Thunberg wird eine bestimmte Idee des Autismus zum Mainstream, nämlich die, dass es sich dabei mindestens so sehr um eine Gabe wie um ein Defizit handelt. Diese Vorstellung kam aber nicht erst mit Thunberg auf.“

Göhlsdorf beforschte unter anderem am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften IFK in Wien, welche unterschiedlichen Vorstellungen es von Autismus gab und gibt, etwa in Wissenschaft und Literatur, Alltags- und Popkultur. „Mich interessiert dabei, wie sich der Blick auf Autismus verändert hat und was das wiederum über gesellschaftliche Veränderungen und Debatten verrät.“

Von der Pathologie zum Spektrum

Bis zu Greta Thunberg, die heute mit Stolz über ihr Asperger-Syndrom spricht und von vielen gefeiert wird, dauerte es lange. Erstmals aufgetaucht ist der Begriff Autismus um 1907. Damit benannte man zunächst ein Symptom schizophrener Menschen, die angeblich in ihrer eigenen Welt leben und stark von inneren Vorstellungen geleitet werden. In den 1940er Jahren wurde Autismus als eigene psychische Erkrankung beschrieben, die ausschließlich Kinder betrifft. „Man sah das Wesen des kindlichen Autismus darin, dass die Kinder vor allem emotional nicht in Kontakt sind mit ihrem Umfeld, dass sie verschlossen bleiben und nicht verständlich ist, was in ihnen vorgeht“, so Göhlsdorf.

Es dauerte noch einmal circa 40 Jahre, bis man erkannte, dass sich Autismus nicht heilen lässt und autistische Kinder zu autistischen Erwachsenen werden. Es waren die 1980er Jahre, als der Großteil der Wissenschaft nicht mehr von einer seltenen und psychoseähnlichen Pathologie spricht. Vielmehr verstand man Autismus von da an allmählich als Störung, die sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann und bei manchen sogar zu kognitiven Höchstleistungen führt. „Es entstand die Idee des Autismus-Spektrums, die sich heute endgültig durchgesetzt hat. Das heißt, es werden Personen als autistisch diagnostiziert, die keine Verbalsprache verwenden oder alltäglich auf Unterstützung angewiesen sind. Zugleich erhalten aber auch Menschen eine Diagnose, die sich verbalsprachlich artikulieren, selbständig leben und berufstätig sind. Man spricht von niedrigfunktionalem und hochfunktionalem Autismus.“

Computer und Autisten

Zeitgleich betrat, so Göhlsdorf, 1988 mit dem Film „Rain Man“ ein Autist die Kinoleinwand, der nicht nur in seiner eigenen Welt lebt, sondern vor allem auch spektakuläre Begabungen besitzt. Beispielsweise kann er sich mit einmal Lesen ein ganzes Telefonbuch merken oder erkennt mit einem Blick, wie viele Streichhölzer zu Boden gefallen sind. „Er wird als Rechenmaschine inszeniert“, lautet ihre Analyse.

Das hält Göhlsdorf für keinen Zufall. Vielmehr führt die Kulturwissenschaftlerin die Veränderungen in den Vorstellungen über Autismus auch auf technologische Entwicklungen „und deren gesellschaftliche Verhandlung“ zurück. Wurden doch zu dieser Zeit Heimcomputer immer wichtiger für den Alltag. Durch sie entstand, so Göhlsdorf, eine neue Idee von Rechenmaschine, die sich schließlich in der Wissenschaft wie in der Popkultur auf die Debatten über Autismus übertrug.

Es ist laut der Kulturwissenschaftlerin auch die Technologie, die Menschen mit Autismus stärker in das Zentrum der Gesellschaft rückt und sichtbarer werden ließ. So wurde das Internet in den 2000er Jahren zur wichtigen Kommunikationsplattform, auf der sich Autismus-Gemeinschaften bilden. „Diese Verschränkungen zwischen Online-Kulturen und Autismus-Kulturen führten auch zu dem Glauben, Menschen mit Autismus hätten besonders innige Technologieverhältnisse. Es hat zudem Tradition, den Autisten als Liebhaber von Apparaten oder selbst als einen Apparat darzustellen.“ Damit einhergehend verbreitete sich auch die Vorstellung, die meisten Programmierer im Silicon Valley seien auf dem Autismus-Spektrum, erläutert die Forscherin.

Mensch der Gegenwart und Zukunft

Bis heute dominiert in der breiteren Öffentlichkeit das Bild des hochfunktionalen, technisch versierten Autisten, der nach Ansicht vieler männlich ist, wie Göhlsdorf betont. In der IT-Branche sucht man sogar gezielt nach Arbeitnehmern mit hochfunktionalem Autismus, weil sie, so heißt es, außerordentlich gut Details bzw. Muster erkennen und bestimmte Vorgänge mit großer Geduld ständig wiederholen können.

Auch hier zieht Göhlsdorf Parallelen zu aktuellen Diskursen sowie Ängsten in der Gesellschaft, in der viele nicht mehr verstehen, wie die digitale Welt funktioniert. „Man hat den Autisten lange als eine rätselhafte Figur gesehen, in der etwas vorgeht, was man nicht nachvollziehen kann. Es liegt also eine Kontinuität darin, Autismus und nicht mehr nachvollziehbare Verfahren heute zusammenzudenken.“

Diese Vorstellung klammere allerdings aus, dass es heute auf die Frage, was Autismus sein könnte, mehr Antworten gibt denn je. Was wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass immer mehr Menschen mit Autismus ihre eigenen Erfahrungen schildern.

Nicht alle sehen sich als „Computer-Nerds“ und definieren sich durch Inselbegabungen, erklärt Göhlsdorf. Viele autistische Menschen berichten, dass sie alltägliche Reize wie Geräusche, Licht und Gerüche besonders stark wahrnehmen. Für viele sei das eine teilweise überwältigende Erfahrung. Gleichzeitig ermögliche es ein intensives Verhältnis zur Umwelt.

Der Blick auf sich selbst

„Autismus wurde immer vorrangig als Störung zwischenmenschlicher Beziehungen begriffen. Die Selbstbeschreibungen zahlreicher autistischer Menschen legen nun nahe, dass Autismus womöglich mit der Fähigkeit zu außergewöhnlich innigen Beziehungen einhergeht – zu dem, was uns umgibt und was die meisten Leute sinnlich nicht erleben.“

Letztlich gehe es ihr jedoch nicht darum, eine Antwort auf die Frage zu finden, was Autismus ist. Vielmehr soll das Forschungsprojekt aufzeigen, wie sehr die verschiedenen Antworten auf diese Frage mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Debatten zusammenhängen, betont die Kulturwissenschaftlerin.

„Ich glaube nicht, dass jemals irgendwer sagen kann: Das ist Autismus. Wir können immer nur über das sprechen, was unter diesem Begriff von einer bestimmten Person innerhalb eines bestimmten Kontexts verstanden wird. Indem ich das untersuche, zeige ich, dass jedes Verständnis von Autismus Auskunft über die Zeit gibt, in der es aufkommt. Jedes Verständnis von Autismus ist damit zeitdiagnostisch.“