Berühmte Menschen haben in Bibliotheken gearbeitet und mit ihren Ideen die Welt verändert. Karl Marx war einer von ihnen. Er lebte ab 1849 als politischer Flüchtling in London. Dort benutzte er oft den Lesesaal des British Museum, und zwar den alten, stickigen und schmutzigen, und dann den neuen, großen und hellen.
1857 wurde der neue runde Lesesaal des British Museum eröffnet und sogleich gefeiert. Viele fanden, man fühle sich darin wie im Pantheon in Rom. Recht besehen, war der Saal mit den hohen Fenstern ein Wunderwerk der Haustechnik. Rohrleitungen zusammen mit Ventilatoren im Keller und in der Kuppel beförderten frische Luft hinein und schlechte hinaus. Karl Marx hat das nicht kommentiert. Er nimmt keine Notiz von den 1857 erheblich verbesserten Produktionsbedingungen für intellektuelle Arbeit.

Über den Autor
Ulrich Johannes Schneider ist ist Professor am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig und derzeit Senior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien.
Das ist nicht untypisch für die Bibliotheksnutzung, die bei den meisten Menschen dem Lesen gilt, der Aufmerksamkeit für die Bücher und Zeitschriften, die man aus dem Magazin bestellt oder den Regalen entnommen hat. Für Karl Marx waren die politischen Verhältnisse in Europa zentrales Thema: Er schrieb für Zeitungen und er bereitete Buchpublikationen vor. Der erste Band von „Das Kapital“ erschien 1867. Vermutlich hat Marx die neue Bequemlichkeit des Arbeitens in der Bibliothek geschätzt; Worte hat er darüber nicht verloren.
Vom Bücherspeicher zum Lesesaal
Auch die gängigen Bibliotheksgeschichten gehen an der gewaltigen Innovation der ersten Lesesaalbibliotheken, die bald nach London und Paris überall auf der Welt entstanden, unbeeindruckt vorüber. Man bewundert große Gebäude in Boston, Leipzig oder Tokio, man fragt aber nicht, was sie so besonders macht. Dabei ist es ganz offensichtlich, dass vor der Mitte des 19. Jahrhunderts Bibliotheken als Bücherspeicher gebaut wurden, danach als Lesesäle mit angeschlossenen Büchermagazinen. Die Hauptfunktion liegt auf der Benutzung; Menschen werden eingeladen, im Gebäude lange Stunden zu verbringen. Dazu braucht es neben gutem Service auch Toiletten, Heizung und Belüftung.

So ist es heute noch. Man kann sogar sagen, dass die moderne Bibliothek mit der Lesesaalbibliothek identisch ist. Gegenwärtig erleben wir eine immer stärkere Fokussierung der Bibliotheksarchitektur auf die Aufenthaltsbereiche für Menschen. Die Büchermagazine geraten, auch durch die Digitalisierung, architektonisch in den Hintergrund. Eben diese Entwicklung wurde im Industriezeitalter angestoßen, das die Bildung des Bürgertums und der Arbeiterschaft förderte, insbesondere durch Bibliotheksbauten.
Den Weg zur Bibliothek Mitte des 19. Jahrhunderts kann man sich so vorstellen: Man musste durch den Dreck der Straßen laufen, Rauch und Staub einatmen, bevor man im Lesesaal aufatmen und eine gefilterte und temperierte Luft einatmen konnte. Bibliotheken stellten nach außen ein markantes Kulturversprechen dar; in den USA haben nicht wenige Millionäre gezielt in Bibliotheken investiert. Nach innen waren es Räume mit einer angenehmen Atmosphäre.
Kampf für gute Luftqualität auch in Schulen
In den etwa 3.000 Bibliotheksneubauten, die vor dem Ersten Weltkrieg auf allen Erdteilen entstanden, bildete sich eine neue Kultur des Umgangs mit Büchern aus, die bis heute prägend geblieben ist. Dabei war es den Hygienikern wichtig, dass der Kampf gegen Rauch und Staub gewonnen wurde. Zuerst rettete man die Innenräume vor der „schlechten Luft“, später dann die Städte selbst mit Filtern in den Schornsteinen und abgasarmer Energieerzeugung. Aber schon im 19. Jahrhundert analysierte man chemisch, protokollierte man physikalisch und beriet medizinisch, was dem Menschen zustößt, wenn er ungeschützt atmet.
Vortrag
Ulrich Johannes Schneider hält am 19. Juni 2023, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Atmen beim Lesen. Über Bibliotheksatmosphären“; dieser findet hybrid statt.
Der Kampf für bessere Luftqualität betraf um 1900 besonders die Bildungsanstalten, die Schulen und Universitäten. Hygieniker kämpften gegen das Gaslicht, bis die Glühlampe erfunden wurde. Sie kämpften gegen die Luftheizung, bis es Heizverfahren ohne Staubbildung gab. Man kämpfte außerdem gegen das heimtückische Kohlenmonoxid sowie gegen den Rauch aus Schornsteinen und Lokomotiven.
Bibliotheksgebäude waren bereits im 19. Jahrhundert Maschinen für verbesserte Atmosphären. So schreibt der Architekt des Wiener Universitätsgebäudes, Heinrich von Ferstel: „Überall wurde für einen hinreichenden Luftwechsel Sorge getragen und überall dort, wo eine energische Ventilation geboten erschien, so namentlich in den Hörsälen und in der Bibliothek, wurde die Lufterneuerung mit Motorenbetrieb durchgeführt.“ Den Menschen sollte es gutgehen, vor allem denen, die an der Verbesserung der Welt arbeiteten.