„Da kann man nur weinen“

1968 ist in Deutschland die Ausbildung zum Kinder- und Jugendpsychiater als eigenes medizinisches Fach anerkannt worden. In Österreich erfolgte diese Anerkennung 2007. Diese Verspätung lässt heute große Lücken in der Versorgung klaffen. Über die Notwendigkeit der Ausbildung herrscht hingegen kein Zweifel mehr.

„Da kann man nichts dazu sagen, da kann man nur weinen“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Ernst Berger im „Dimensionen-Magazin Spezial“ auf die Frage, wie man knapp vier Jahrzehnte Unterschied zwischen Österreich und Deutschland interpretieren kann. Die Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie habe schon 1997 die ersten Verhandlungen zur Einrichtung des Sonderfachs geführt, dennoch habe es noch einmal zehn Jahre gebraucht, bis es etabliert wurde. Die Auswirkungen sehe man heute in der mangelhaften Versorgung.

Späte, aber umfassende Anerkennung

Die Anerkennung kam also spät, aber dafür ist sie heute umso mehr vorhanden. Denn niemand - weder in Politik und Verwaltung noch in der Wissenschaft - zweifelte in den über Monate laufenden Recherchen von Ö1 daran, dass es für die psychiatrische Betreuung von Kindern und Jugendlichen eine spezielle Ausbildung braucht.

Daran müsse man auch festhalten, wenn Krankenanstalten betonen, dass sie sich um die bestmögliche Betreuung von Kindern und Jugendlichen in der Erwachsenenpsychiatrie bemühen. „Natürlich bemühen sich die Kollegen und Kolleginnen. Aber das ändert nichts daran, dass ihnen wesentliche Teile in ihrer Ausbildung und vor allem Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen fehlen“, hält der Kinder- und Jugendpsychiater Berger fest. Das gehe bis hin zu Frage der Dosierung von Medikamenten, die sich bei Kindern und Jugendlichen ganz anders darstellt als bei Erwachsenen.

Bettenstatistik

science.ORF.at/Quelle: Ärztekammer Österreich

Zwischen 0,08 und 0,1 sollte die Bettenmessziffer liegen, was die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung in Krankenhäusern betrifft. Außer Vorarlberg liegen alle Bundesländer darunter, das Burgenland gar bei 0,00.

Diese Einschätzung bestätigt auch Bernhard Rappert vom Vertretungsnetz Patientenanwaltschaft: „Es gibt kaum Psychopharmaka, die für junge Patienten und Patientinnen zugelassen sind. Sie bekommen sie aber dennoch, was auch der medizinischen Praxis entspricht. Gerade bei dieser Personengruppe braucht es aber langjährige Erfahrung und Fachwissen über die Dosierung, um das korrekt durchzuführen.“

Vorwurf: Häufigere Fixierungen

Werden Kinder und Jugendliche aus Platzmangel in der Erwachsenenpsychiatrie untergebracht, entstehen aber noch weiter Probleme. „Es ist auffällig, dass solche Fixierungen an Jugendlichen auf der Erwachsenenpsychiatrie deutlich häufiger stattfinden als auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie“, schildert Patientenanwalt Rappert.

Diese Beobachtung kann zwar nicht durch konkrete Zahlen untermauert werden, weil Fixierungen in Psychiatrien nicht eigens statistisch erfasst, sondern immer nur in der einzelnen Fallgeschichte dokumentiert werden. Aufgrund ihrer Erfahrung nachvollziehen kann sie Charlotte Hartl von der Österreichischen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie aber schon. Denn um Fixierungen zu vermeiden, braucht es laut ihren Aussagen neben der speziellen Ausbildung des medizinischen Personals auch Infrastruktur in Form von Auszeiträumen, die so gepolstert sind, dass sich das Kind bzw. der Jugendliche nicht verletzen kann.

In einer kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung bleibt der Jugendliche gemeinsam mit zwei Betreuungspersonen im Auszeitraum, bis nach der Aufregungsphase die Erschöpfung eintritt, so die Kinderpsychiaterin: „Dann erspart man sich einerseits die Fixierung und andererseits auch die hoch dosierte Medikation.“

Problematische Langzeitwirkung

Als größtes Problem an der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in der Erwachsenenpsychiatrie sehen Fachleute aber die Langzweitwirkung, die ein solcher Aufenthalt unter psychisch kranken Erwachsenen haben kann: Kinder und Jugendliche können die Eindrücke dort nicht mehr richtig einordnen, als Konsequenz könne eine enorme Verschlechterung der Grundsymptomatik drohen, sagt der Kinderpsychiater Christian Müller gegenüber Ö1: „Nicht weil die Erwachsenenpsychiatrie böse ist, ganz und gar nicht. Sondern weil das eine Welt ist, die für Kinder nicht vorstellbar ist.“

Neben der anderen Umgebung verläuft auch die Betreuung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in vielen Fällen anders, sagt Kinderpsychiater Christian Müller: „Meist sind zwei Pflegepersonen zuständig. Wenn der eine nicht da ist, ist der andere da. Es gibt eine fallführende Ärztin, eine Psychologin, Psychotherapeutinnen - also eine Einzelsituation. Hier gibt es Bindungsstruktur im Chaos.“

Lücken auch außerhalb der Krankenhäuser

Um die Situation zu ändern, braucht es laut Experten aber nicht nur mehr Krankenhausbetten, sondern auch einen Ausbau der ambulanten Betreuung. Derzeit gibt es in allen Bundesländern spezielle Ambulatorien, viele davon werden vom Psychosozialen Dienst, einzelne auch von privaten Vereinen wie ProMente und SOS Kinderdorf betrieben.

Hinzugekommen sind in jüngerer Vergangenheit niedergelassene kinder- und jugendpsychiatrische Arztpraxen mit Kassenvertrag, aber auch hier hat das Netz Lücken: So gibt es in der Steiermark und im Burgenland keinen einzigen Kinder- und Jugendpsychiater, der auf Kosten der Gebietskrankenkassen zur Verfügung steht. In den anderen Bundesländern bewegt sich die Zahl großteils im niedrigen einstelligen Bereich.

„Keine Lobby“

Bei den Recherchen wurde Ö1 von allen Seiten versichert, dass man alles tue, um die Versorgung für Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen in Österreich zu verbessern, dass das aufgrund der Versäumnisse in der Vergangenheit aber Zeit brauche. Warum es überhaupt zu den Versäumnissen kam, darin gibt es keine Einigkeit.

„Aus der großen Angst, dass die psychische Erkrankung des Kindes auf die Eltern und ihre Erziehung zurückfällt, haben viele Menschen davor zurückgescheut, laut nach Hilfe zu rufen“, sagt etwa die Kinder- und Jugendpsychiaterin Hartl. Der Psychiater und Neurologe Berger hingegen meint: „Kinder und Jugendliche haben keine wirkungsvolle Lobby - und genauso geht es den Ärztinnen und Ärzten, die sich um sie kümmern.“

Redaktion: Elke Ziegler, Mitarbeit: Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft

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