Warum die beste Theorie nicht gut genug ist

Wenn er auf sein Lebenswerk zurückblicke, sagt der amerikanische Physiknobelpreisträger David Gross, empfinde er Stolz und Enttäuschung: Die Teilchenphysik habe jahrzehntelang Triumphe gefeiert - doch nun stehe sie vor einem großen Mysterium.

Vielleicht ist der Begriff des Doyens im Wissenschaftsbetrieb schon ein wenig abgegriffen, im Fall von David Gross hat er zweifelsohne seine Berechtigung. Der amerikanische Physiker hat die Entwicklung der Teilchenphysik geprägt wie kaum ein anderer.

Der 75-Jährige gilt unter anderem als einer der Architekten des sogenannten Standardmodells - jene Theorie, die das Verhalten der Elementarteilchen der Materie erklärt. Vor vier Jahren feierte das Modell durch die Entdeckung des Higgs-Teilchens seinen finalen Triumph: Final deshalb, weil das Higgs-Boson - der Überbringer von Masse im Universum - das letzte Partikel auf der Liste der Teilchenphysiker war, das es noch zu entdecken galt. Seitdem ist das Standardmodell grosso modo abgeschlossen.

Die Phänomene in der subatomaren Welt haben die Forscher im Griff. Sie können extrem genau beschreiben, was passiert, wenn Teilchen aufeinanderprallen, in kleinere Bausteine zerfallen oder sich gegenseitig vernichten. Und diese Beschreibungen wurden wieder und wieder im Experiment bestätigt. „Das Standardmodell“, sagt Gross, „ist die erfolgreichste Theorie der Natur, die wir je hatten.“

Blinde Flecken im Standardmodell

Gute Popperianer werden nicht müde darauf hinzuweisen, dass Erkenntnisfortschritt in der Wissenschaft nur durch Widerlegung, nicht durch Bestätigung von Theorien passiert. Das mag genau genommen stimmen, in der Praxis sieht es dennoch ein wenig anders aus: Natürlich ist die Bestätigung ein Hinweis darauf, dass man sich auf dem richtigen, zumindest auf einem guten Weg befindet.

Physik-Nobelpreisträger David Gross

ÖAW

Im Juni hielt David Gross an der Akademie der Wissenschaften einen Vortrag über die Zukunft der Physik

Das Weltbild, das die theoretische Physik in den letzten Jahrzehnten aufgebaut hat, kann angesichts der in unzähligen Experimenten angesammelten Messergebnisse nicht ganz falsch sein: Die Natur wird von vier Grundkräften regiert. Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft sowie die Gravitation - das sind die Kräfte, die das Verhalten der Materie bestimmen. Darüber hinaus gibt es noch einen ganzen Schwarm an Teilchen, die Bausteine der Materie.

All die Photonen und Protonen, Quarks und Neutrinos haben ihre Entsprechung im Formelkanon der Physiker. Alles, was die Theorie zu beschreiben vermag, beschreibt sie annähernd perfekt.

„Als jemand, der das Standardmodell mitentwickelt hat“, so Gross, „bin ich stolz, weil die Theorie so gut funktioniert. Auf der anderen Seite bin ich auch enttäuscht, weil uns die bisherigen Experimente keinen Aufschluss geben, wie es weitergeht.“

Gross’ Enttäuschung hat damit zu tun, dass in den vergangenen Jahren neue Fragen aufgetaucht sind, die dem traditionellen Weltbild der Physiker seine Grenzen aufzeigen. Die Kosmologen gehen davon aus, dass die handelsübliche, also sichtbare Materie, wie sie das Standardmodell beschreibt, bloß fünf Prozent der Energie des Universums ausmacht. Der Rest geht auf das Konto von zwei Phantomen: die Dunkle Materie und die Dunkle Energie.

Diese beiden unsichtbaren Energieformen benötigen die Kosmologen, um die Rotation von Galaxien und die Ausdehnung des Universums erklären zu können. Woraus Dunkle Materie und Dunkle Energie bestehen, ist unbekannt - das herauszufinden ist nun Aufgabe der Teilchenphysiker. Doch wie? Das Standardmodell hat dazu nichts zu sagen. Es fehlt ihm schlicht das Vokabular, um diese Phänomene zu beschreiben. „Die großen Rätsel der Physik blieben bisher unbeantwortet“, sagt Gross.

Ein neues Teilchen?

Möglicherweise haben Wissenschaftler des Kernforschungszentrums CERN nun einen Hinweis in Händen, was sich hinter dem Schlagwort der „neuen Physik“, von der in den letzten Jahren so oft die Rede war, verbergen könnte. Sie haben bei Teilchenkollisionen Ende letzten Jahres einen auffälligen Überschuss an Photonen entdeckt, der auf die Existenz eines unbekannten Teilchens hindeutet.

David Gross, US-amerikanischer Physiker

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Für seine Beiträge zur Theorie der starken Kernkraft erhielt Gross 2004 den Nobelpreis für Physik

Bisher sind 400 Arbeiten erschienen, die diese Messungen zu erklären versuchen. Die Ansätze sind höchst unterschiedlich, eines jedoch haben sie gemeinsam: Sie alle versuchen die Grenzen des Standardmodells zu erweitern. Die „neue Physik“, so es sie gibt, braucht eine noch größere, umfassendere Theorie, die im Idealfall auch gleich die Dunkle Materie und die Dunkle Energie ins Boot holt.

Welcher der Vorschläge Aussicht auf Erfolg hat, wird sich frühestens im August zeigen. Dann, so versprechen die CERN-Physiker, wird es genauere Messergebnisse geben. Und dann wird sich auch zeigen, ob das neue Teilchen tatsächlich existiert.

Gesucht: Die umfassende Theorie

Dass das Standardmodell, trotz seiner Erfolge, nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss, lässt sich auch ästhetisch argumentieren. Manche haben das Modell, weil man vorne ein paar willkürliche Parameter (etwa die Masse der Quarks) hineinstecken muss, damit hinten das richtige herauskommt, als „hässliche Theorie“ bezeichnet. Das will Gross so nicht stehen lassen.

„Das Standardmodell ist sicher nicht hässlich. Es ist wunderschön, sparsam und extrem leistungsfähig.“ Gleichwohl gesteht auch er zu, dass die Architektur der Theorie zumindest eigenwillig ist. Wörtlich genommen: In welchem Stil wurde dieses Theoriengebäude erbaut?

Gross: „Die solidesten Bestandeile im Standardmodell sind die physikalischen Kräfte. Das ist der Grundstock. Und dann hat dieses Gebäude noch Ornamente - das ist die Materie. Es gibt keine gute Theorie, die tiefgründig zu erklären vermag, warum die Materie so ist und nicht anders. Vielleicht ist das Gebäude im postmodernen Stil errichtet: Die Basis ist geometrisch. Das Stockwerk darüber, das gebe ich zu, hat etwas Willkürliches an sich.“

Wird die theoretische Physik zu einer durchgehend klassischen Architektur zurückfinden? Gross glaubt, dass das mit Hilfe der sogenannten Superstringtheorie gelingen könnte. Die Theorie postuliert, dass selbst die Elementarteilchen aus noch kleineren, schwingenden Saiten, „Strings“, aufgebaut sind. Mit dieser Grundidee lassen sich fast beliebig viele Theorien erzeugen.

Die Anpassungsfähigkeit des Konzepts ist sein großer Vorteil - und gleichzeitig auch seine größte Schwäche: Denn welche die richtige der Tausenden möglichen Theorien ist, lässt sich in Ermangelung testbarer wie eindeutiger Vorhersagen kaum entscheiden. Für Gross indes ist das kein Grund, die Hoffnung fahren zu lassen.

Mit Ungewissheit könne er nach all den Jahren in der Forschung umgehen. „Wissenschaft ist wie Bergsteigen im Dunkeln. Man geht auf einen Berg, auf dem man noch nie war. Man weiß nicht, wo der Gipfel ist. Man weiß nicht einmal, ob man in die richtige Richtung geht.“

Robert Czepel, science.ORF.at

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