Forschungsalltag im repressiven Staat

Die „Säuberungswelle“ in der Türkei richtet sich auch gegen Akademiker, Wissenschaftler und Intellektuelle. Wie gestaltet sich der Forschungsalltag angesichts der zunehmenden Repressionen? Eine Bestandsaufnahme.

1.700 Dekane wurden letzte Woche zum Rücktritt aufgefordert. Türkische Wissenschaftler sollen im Moment das Land nicht verlassen und die, die sich im Ausland befinden, in die Türkei zurückkehren. Von freier Forschung und freier Meinungsäußerung ist die Türkei zur Zeit meilenweit entfernt.

„Wir versuchen, normal weiterzuarbeiten“, erzählt die Archäologin Sabine Ladstätter vom Österreichischen Archäologischen Institut. Die Kärntnerin leitet seit mittlerweile sechs Jahren die Ausgrabungen in Ephesos, im Westen der Türkei. Unter ihren türkischen Mitarbeitern habe es eine breite Ablehnung des versuchten Militärputsches gegeben, betont sie. „Nach dem Putschversuch sind nun alle sehr vorsichtig und halten sich mit Äußerungen zurück.“ Ladstätter hat ihren Mitarbeitern nach der Putschnacht freigestellt, ob sie arbeiten wollen oder nicht. Alle kamen zur Arbeit, denn Beschäftigung sei ein gutes Mittel gegen Unruhe.

Enge internationale Verflechtungen

Sendungshinweis

Über dieses Thema berichtete auch das Mittagsjournal, 23. Juni, 12.00 Uhr.

Im internationalen Forschungsteam wird viel über die Vorgänge gesprochen. Gerade das Ausreiseverbot für türkische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigt das Team. Die Freiheit der Wissenschaft und die Internationalität seien Grundwerte, sagt Ladstätter. Die türkische Forschungslandschaft ist stark mit der europäischen verwoben und partizipiert auch an den europäischen Förderprogrammen. Allein über den ERC, den Europäischen Forschungsrat, konnte die Türkei bis Anfang dieses Jahres fast 25 Millionen Euro lukrieren. Das Land ist unter Studierenden und Forschern und Forscherinnen auch ein beliebtes Erasmus-Ziel. Allein die Universität Wien hat acht Partneruniversitäten in der Türkei.

Sollten türkische Forscherinnen und Forscher in die Türkei zurückbeordert werden, wäre das für die Wissenschaft eine Katastrophe, sagt Ladstätter. Viele Projekte könnten dann nicht mehr abgewickelt werden. Doch derzeit gelte es erst einmal abzuwarten. „Wir müssen jetzt warten, bis die Phase der Abkühlung eintritt, um dann tatsächlich beurteilen zu können, wie es weitergeht“. Es gelte, auf Gespräche zu setzen und aufzuzeigen, wie erfolgreich die türkische Wissenschaft in Europa sei.

Kritisches Denken in Gefahr

Türkische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind derzeit sehr zurückhaltend. Ein offizielles Statement möchte keiner der Kontaktierten abgeben. Kein Wunder, hat doch der türkische Hochschulrat alle Hochschulrektoren aufgerufen ihre Mitarbeiter auf etwaige Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu überprüfen. Die Autonomie der türkischen Universitäten ist schon länger in Gefahr, sagt Lesley Wilson von der European University Association (EUA). Anfang des Jahres haben rund 1.200 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen eine Petition für ein Ende der Militärschläge gegen Kurden unterzeichnet. Einige von ihnen wurden daraufhin entlassen, oder es wurden Verfahren gegen sie eingeleitet.

Die EUA kritisiert die Vorgänge in der Türkei. Sollten die Vorstellungen von wissenschaftlicher Freiheit zwischen der Türkei und Europa weiter auseinandergehen, müsse man Kooperationen überdenken, sagt Generalsekretärin Ashley Wilson. Sie hoffe jedoch, dass eine Zusammenarbeit im universitären Bereich weiterhin möglich ist. Immerhin habe man es zur Zeit des Kalten Krieges auch geschafft, wissenschaftlich mit den Ländern des damaligen Ostblocks zusammenzuarbeiten. Die Türkei brauche jetzt Meinungsäußerung, öffentliche Debatten und wissenschaftliche Freiheit, so Wilson.

Juliane Nagiller, Ö1 Wissenschaft

Mehr zu diesem Thema: