Das Hirn gewöhnt sich ans Lügen

Kleine Lügen erleichtern das Leben. Aber Vorsicht: Mit jeder Lüge schwindet das schlechte Gewissen, und der Lügner entfernt sich zunehmend von der Wahrheit. Das lässt sich sogar im Gehirn messen, wie eine neue Studie zeigt.

Die Lüge ist längst salonfähig geworden. Selbst in der Politik darf man heute völlig ungestraft die Unwahrheit erzählen. Bestes Beispiel derzeit ist der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump, der mitunter hemmungslos lügt und damit vorerst noch recht erfolgreich ist. Die Faktenchecker von politifact.com - ein US-amerikanisches Projekt, in dem Redakteure und Herausgeber die Aussagen von Politikern auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen - haben Trump 2015 zum Lügner des Jahres gewählt (Donald Trump bei politifact.com).

„Post-truth Politics“ nennt man das Phänomen im englischen Sprachraum - ob eine politische Aussage wahr ist, spielt demnach im politischen Geschäft kaum mehr eine Rolle.

Die Studie

„The brain adapts to dishonesty“, Nature Neuroscience, 24.10.2016

Eigentlich moralisch verpönt sind Lügen auch abseits der politischen Bühne mehr als geduldet: Sie sorgen dafür, dass das soziale Miteinander reibungslos funktioniert, wie Forscher erst letztes Jahr in einer Studie argumentierten. Menschen lügen einfach, heißt es; im Durchschnitt übrigens etwa zweimal pro Tag. Kleine Notlügen erhalten mitunter den Frieden in der Partnerschaft oder in Freundschaften.

Lügen wird zur Gewohnheit

Dennoch: Lügen ist für die allermeisten Menschen nicht angenehm. Das schlechte Gewissen meldet sich augenblicklich, selbst dann, wenn man der Freundin ein nicht ganz ernst, jedoch gut gemeintes Kompliment macht. Aber - so die These der Forscher um Neil Garrett vom University College London - diese unangenehmen Gefühle könnten verschwinden, je häufiger und folglich normaler das Lügen wird.

Das sei zumindest anekdotisch bereits bekannt. Ob Finanzbetrug oder wissenschaftliches Fehlverhalten, retrospektiv berichten Betrüger häufig, dass alles mit kleineren Unwahrheiten begonnen habe, schreiben die Forscher in ihrer Studie. Offenbar gebe es einen Gewöhnungseffekt. Studien hätten zudem gezeigt, dass die Bereitschaft zum Betrug steigt, wenn die emotionale Reaktion durch Medikamente gedrosselt wird.

Eigennütziges Verschätzen

Diese Thesen hat das Team durch Experimente mit insgesamt 80 Freiwilligen getestet. Die Probanden mussten dabei einschätzen, wie viele Münzen sich in einem transparenten Behälter befinden. Die geschätzte Menge sollten sie einem nicht sichtbaren Partner mitteilen. Im Grundsetting ging es darum, die Menge möglichst genau zu schätzen - so konnten die Forscher einschätzen, von welcher Menge die Probanden tatsächlich ausgingen.

Das Szenario wurde dann in verschiedenen Variationen durchgespielt: manchmal brachte das Über- bzw. Unterschätzen der Münzenmenge dem Spieler einen Vorteil auf Kosten des anderen, ein anderes Mal profitierten beide oder nur der Partner.

Wiederholung macht den Lügner

Es zeigte sich, dass die Probanden am häufigsten aus Eigennutz schwindeln. Aber - wie die Forscher angenommen hatten - es war ihnen auch sehr unangenehm. Das wurde auf den Gehirnbildern sichtbar, die zeitgleich mittels Funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRI) erstellt worden waren. Die kleinen Lügen führten zu einer erhöhten Aktivität im Mandelkern (Amygdala), jener Hirnregion, die bei jeder Form der Erregung eine zentrale Rolle spielt.

Diese neurologische Reaktion veränderte sich jedoch, je öfter die Probanden die Szenarien durchspielten und je öfter sie logen, d.h., sie wurde immer schwächer. Mit der schwindenden Erregung stieg die Bereitschaft zur Übertreibung, und die Teilnehmer entfernten sich immer weiter von der Wahrheit. Offenbar stumpften sie mit jeder Wiederholung zunehmend ab und logen immer ungenierter.

Gefährliche Gewöhnungseffekte

Die Ergebnisse demonstrieren den Forschern zufolge anschaulich, wie durch die Macht der Gewohnheit aus kleinen moralischen Abweichungen echter Betrug werden kann. Ähnliche Gewöhnungseffekte seien auch bei anderen Verhaltensweisen vorstellbar, etwa bei der Bereitschaft zu Risiko und Gewalt.

Wie die Autoren am Ende ihrer Studie schreiben, sollten diese Erkenntnisse auch Entscheidungsträger interessieren: Wenn man kleine Unehrlichkeiten in Politik, Wirtschaft und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens einfach toleriere, könnten irgendwann schwerwiegende Lügen folgen.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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