Sichtbare Armut verringert Mitgefühl

Beim Weltwirtschaftsforum in Davos geht es um globale Ungleichheit. Wie schwierig es ist, sie zu bekämpfen, zeigt eine neue paradoxe Studie: In der Nähe einer offensichtlich armen Person schrumpft die Begeisterung für eine gerechte Umverteilung.

Eine aufgeräumte Geschäftsstraße in einem wohlhabenden Vorort von Boston. Passanten flanieren in der Fußgängerzone, am Rande des Weges sitzt eine ungekämmte, schäbig gekleidete Person in gekrümmter Körperhaltung. Nur wenige Meter entfernt versucht ein politischer Aktivist, Unterschriften für ein Gesetzesänderung zu sammeln: Es geht um die Millionärssteuer.

Dabei sollen Menschen - mit einem Jahreseinkommen über einer Million Dollar - ein paar Prozent dem Staat und dieser wiederum den Ärmsten geben. In manchen US-Staaten wird ein solches Ansinnen tatsächlich diskutiert. Der Aktivist spricht jeden dritten Passanten an, erklärt das Anliegen und bittet um eine Unterschrift.

Ein armer und ein reicher Statist

Mit diesem möglichst realitätsnahen Szenario haben die Forscher um Melissa L. Sands von der Harvard University im Herbst 2015 an insgesamt dreißig Tagen versucht herauszufinden, wie Menschen auf erlebte Ungleichheit reagieren. Nur war die ärmlich gekleidete Person in Wirklichkeit ein Schauspieler, der Aktivist ein Helfer der Wissenschaftler.

Im Vergleichsszenario gab der Schauspieler einen offensichtlich sehr wohlhabenden Mensch, der am Straßenrand auf jemanden wartete. Im Kontrollexperiment wurde das gesamte Schauspiel mit einer Unterschriftenaktion gegen Plastiksackerln durchgespielt.

Kein Mitleid

2.591 Personen wurden insgesamt angesprochen. Wenn es um Plastiksackerln ging, war es laut den Forschern völlig unerheblich, ob sich ein ausgesprochen armer oder reicher Mensch im Wahrnehmungshorizont des befragten Passanten befand.

Nicht so bei der Millionärssteuer: Ob jemand dafür unterschrieb, hing sehr wohl von den jeweiligen Statisten ab, obwohl sich diese - abgesehen von ihrem ärmlichen oder reichen Äußeren - völlig unauffällig verhalten hatten. Sie durften weder betteln noch alkoholisiert oder verwirrt wirken. Allein die Anwesenheit einer äußerlich armen Person hielt viele Befragte davon ab, die Kampagne für Umverteilung zu unterstützen.

Besonders ausgeprägt war der negative Zusammenhang, wenn der Passant - wie die meisten Menschen in der Stichprobe - und der Statist männlich und weiß waren. War die vermeintlich arme Person ein Afroamerikaner, waren die weißen Befragten noch etwas großzügiger gestimmt.

Relativer Status

Aber warum sinkt bei sichtbarer Ungerechtigkeit die Bereitschaft zur Umverteilung von Vermögen? Die arme Person könnte ja auch Mitleid auslösen, was eigentlich den gegenteiligen Effekt haben sollte.

Studienautorin Melissa L. Sands hat eine Vermutung: Angesichts der Armut denken Menschen über ihren eigenen sozialen Status nach. Üblicherweise definiere sich dieser in Relation zu anderen. Und obwohl die meisten der Befragten zwar wohlhabend, aber nicht superreich waren, fühlen sie sich plötzlich wie ein Millionär, schreibt Sands. Natürlich könnten sie einer Millionärssteuer dann nicht mehr viel abgewinnen.

Streng zu seinesgleichen

Besonders hart falle ein solcher Vergleich unter seinesgleichen aus, also in diesem Experiment zwischen weißen Männern. Wahrscheinlich werde in diesem Fall weniger die Gesellschaft als das Individuum für das offensichtliche Scheitern verantwortlich gemacht. Mit anderen Worten: Der Arme habe sich wohl nicht genug angestrengt.

Die Ergebnisse legen nahe, dass bei sichtbarer Armut - besonders in wohlhabenden Gegenden - die Unterstützung für Aktionen schrumpft, die genau diesen Umstand ändern wollen. Laut Sands eine sehr beunruhigende Schlussfolgerung, wenn man bedenke, dass die meisten Menschen in städtischen Gebieten leben, wo solche Begegnungen unumgänglich sind.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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