„Die Technologie stößt uns vom Thron“

Lange hat der Mensch geglaubt, er sei die Krone der Schöpfung. Heute gewinnen wir nicht einmal mehr im Schach gegen Computer. Deswegen müsse sich der Mensch abermals neu definieren, sagt der Philosoph Luciano Floridi - auch wenn es schmerzhaft ist.

Heute trägt jeder Mensch - im Durchschnitt - zumindest ein Gerät bei sich, das mit dem Internet verbunden ist. „Online“ und „offline“ würden als Begriffe heute nicht mehr funktionieren, sagt der Philosoph Luciano Floridi vom Oxford Internet Institute der Universität Oxford im Interview mit science.ORF.at. Deswegen sei es umso wichtiger, jetzt neue Regeln für das virtuelle Zusammenleben zu finden.

science.ORF.at: Sie sagen, dass wir nicht länger „online“ gehen, vielmehr sei unser ganzes Leben vernetzt, wir führen ein „onlife“. Gilt das auch für Sie?

Luciano Floridi: Als jemand, der 1964 geboren wurde, habe ich noch gelernt, mit einem Modem online zu gehen. Ich wurde nicht in die Infosphäre hineingeboren, aber ich bin bewusst dorthin gewandert. Das ist ja auch mein Untersuchungsgebiet. Also bin ich auf Twitter, auf Facebook, usw., und mein Smartphone ist immer online.

Luciano Floridi

Oxford Internet Institute

Luciano Floridis Buch „Die 4. Revolution - Wie die Infosphäre unser Leben verändert“ ist 2014 im Suhrkamp Verlag erschienen.

Sie bezeichnen die Veränderungen, die sich gerade abzeichnen, als „Vierte Revolution“. Was ist bis hierher geschehen?

Das Digitale hat etwas mit uns gemacht, was andere Revolutionen zuvor auch getan haben. Sie haben unser Selbstverständnis verrückt. Wir glaubten einmal, dass wir das Zentrum des Universums seien. Diese Wahrnehmung haben wir mit Kopernikus verloren. Dann glaubten wir, dass wir im Zentrum des Tierreichs stünden. Diese Annahme hat uns Darwins Evolutionstheorie genommen. Dann kam Freud und sagte uns, dass unbewusste Kräfte unser Verhalten steuern.

Was ist dem Menschen danach geblieben?

Das war strategisches Denken, war Handlungskompetenz. Wir konnten Schach spielen, wir konnten ein Auto fahren, wir konnten Dinge bauen. Wir waren die einzigen, die das konnten, wir waren die Besten.

Und jetzt sind wir nicht mehr die Besten?

Natürlich gibt es viele Dinge, die nur Menschen können. Ich spreche auch nicht von einer künstlichen Superintelligenz, die den Menschen gänzlich in den Schatten stellt. Aber es gibt nun einmal Technologien, die uns in bestimmten Belangen vom Thron stoßen, die besser sind als wir. Deswegen müssen wir uns fragen: Was ist „der Mensch“ im 21. Jahrhundert, in der digitalen Ära? Das ist die Revolution, die vom Digitalen ausgeht.

Es gibt Menschen, die versuchen, sich Sozialen Medien und anderen online-Angeboten weitestgehend zu entziehen. Führen dennoch alle ein „onlife“?

Entschuldigen Sie dieses Wortspiel, aber wir sollten realistisch sein, wenn es um das Virtuelle geht. Die Unterscheidung von virtuell und real gehört in ein anderes Zeitalter. Es gibt Dinge, die auf Facebook passieren oder auf Twitter oder die der Algorithmus von Google nach oben spült, die das Leben von Menschen nachhaltig verändern, oft zum Negativen. Welchen Einfluss die Sozialen Medien beispielsweise auf die Realpolitik haben, konnten wir gerade erst bei den Wahlen in den USA sehen. Selbst diejenigen, die versuchen ein analoges Leben zu führen, werden von allen anderen hineingezogen. Es gibt kein Entkommen. Wer noch immer glaubt, dass das Virtuelle, das Digitale so etwas wie eine Phantasiewelt ist, der ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.

Das heißt virtuelle und reale Welt sind eins geworden?

Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen der virtuellen und der realen Welt. So wie sich Salzwasser von Süßwasser unterscheidet. Und wir leben immer mehr an jenem Ort, wo sich das Salz- und das Süßwasser mischen. Aber es ist auch so, dass all die Vorteile dieser neuen Welt, in diesem Brackwasser liegen, wo das Wasser ein bisschen süß und ein bisschen salzig ist und nur Mangroven wachsen.

Aber dort, wo die Mangroven wachsen, passiert auch sehr viel Negatives. Fake News, Hass-Postings, Trolle - all das sind online-Phänomene.

Ich gehe nicht davon aus, dass uns die neuen Medien „böser“ machen. Aber natürlich, wer lügen oder Hasstiraden verbreiten will, der ist in der digitalen Sphäre mit wesentlich niedrigeren Schwellen konfrontiert. Dadurch entstehen falsche Beziehungen und es kommt zu mehr Friktionen. Die Menschen krachen aneinander. Wir sind deswegen nicht schlechter oder besser. Aber es verbreitet sich alles viel einfacher und schneller: das Gute und das Schlechte. Das Problem ist, die guten Dinge sorgen nicht für Schlagzeilen, für mehr Zugriffe oder Rückmeldungen. Es sind die schlechten Dinge, die alle anklicken. Und deswegen wirkt es so, als ob wir in einer viel hässlicheren Welt leben als früher.

Was Hass und Falschmeldung betrifft, überlassen wir die Verantwortung den online-Plattformen, die diese Dinge verbreiten. Ist das der richtige Weg?

Wir sollten natürlich nicht darauf warten, dass Konzerne wie Facebook, Google oder Twitter diese Probleme für uns lösen. Es braucht eine Ethik des Digitalen und wir stehen jetzt an einem Scheideweg. Keine andere Generation hatte so eine große Verantwortung, für die Zukunft vorzusorgen. Wir müssen die geeigneten Voraussetzungen für die weitere Entwicklung dieser Technologie schaffen. Denn keine andere Technologie hat sich so schnell entwickelt. Der Druck ist enorm, das Tempo überwältigend und wir werden natürlich Fehler machen. Wir müssen weit nach vorne sehen, aber ich bin dennoch verhalten optimistisch, dass wir das schaffen werden.

Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft

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