Impfen als sozialer Akt

Impfen schützt nicht nur den Einzelnen. Je mehr Menschen geimpft sind, umso geringer ist das Ansteckungsrisiko für Nichtgeimpfte - man nennt das Herdenschutz. Die Impfbereitschaft würde steigen, wenn dieser Umstand allen bewusst wäre, sagen Forscher.

Durch Impfungen lassen sich Infektionskrankheiten im optimalen Fall sogar ausrotten. Gelungen ist das bis jetzt bei den Pocken: Nach einer erfolgreichen Impfkampagne erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Erde 1979 als pockenfrei. Die Kinderlähmung wurde zumindest weitgehend zurückgedrängt. 1988 gab es weltweit noch 350.000 Fälle, 2015 waren es weniger als hundert.

Auch die Masernimpfung hat bereits zahlreiche Leben gerettet, laut der WHO waren es allein zwischen 2000 und 2015 20 Millionen. Die Masern ließen sich ebenfalls völlig eliminieren. In Europa könnte das längst der Fall sein (die WHO hatte dieses Ziel bereits für 2015 anvisiert), wäre die Impfbereitschaft etwas höher. Denn in Europa leben besonders viele Menschen, die vor allem aus Angst vor Nebenwirkungen Impfungen skeptisch gegenüber stehen - das ergab eine Erhebung im vergangenen Jahr.

Schutz für Schwächere

Nur wenn 100 Prozent der Bevölkerung gegen eine Krankheit immun sind, kann ein Erreger, der auf einen menschlichen Wirt angewiesen ist, nicht mehr überleben. Aber schon bei einer Durchimpfungsrate von 95 Prozent hat ein Virus wenig Chance - man spricht hier vom Herdenschutz. Anders ausgedrückt: Wenn ich mich impfen lasse, schützt meine Immunität auch andere. Das hilft vor allem Menschen, die nicht geimpft werden können, weil sie zu jung sind, z. B. Neugeborene, oder weil sie ein schwaches Immunsystem haben.

Dieser soziale Effekt des Impfens werde aber kaum thematisiert oder in Impfkampagnen kommuniziert, wie Forscher um Cornelia Betsch von der Universität Erfurt in einer aktuellen Studie schreiben. Mit einem Onlineexperiment haben sie nun versucht herauszufinden, ob eine gezielte Information zum Herdenschutz die Impfbereitschaft erhöhen wurde.

2.000 Menschen aus sechs kulturell unterschiedlichen Ländern haben daran teilgenommen (Südkorea, Vietnam, Hongkong, USA, Deutschland, Niederlande). Informiert wurden die Menschen über eine hypothetische Krankheit, über die Durchimpfungsrate und über den Herdenschutz. Danach mussten sie entscheiden, ob sie sich selbst impfen lassen würden.

Kulturelle Unterschiede

In einem ersten virtuellen Szenario ging es um eine hoch ansteckende Krankheit. In diesem Fall war die Impfbereitschaft bei allen recht hoch. Im Mittelpunkt des zweiten Szenarios stand eine weniger ansteckende Erkrankung - hier waren die Ergebnisse sehr viel diverser. Generell sank die Impfbereitschaft.

In westlichen Ländern stieg sie aber wieder deutlich (von 45 auf 57 Prozent), wenn die Teilnehmer ausführlich über den Herdenschutz informiert worden waren. In den asiatischen Teilnehmerländern war die Bereitschaft generell höher, nämlich 61 Prozent.

Die Studienautoren führen diesen Unterschied auf den kulturellen Hintergrund zurück: Während in asiatischen Gesellschaften die Gemeinschaft bzw. das Kollektiv mehr zählt, steht im Westen das Individuum im Mittelpunkt. Besonders wirksam war die Information zum Herdenschutz übrigens in Form eines interaktiven Spiels - es veranschaulicht, was passiert, wenn viele oder wenige Menschen geimpft sind.

Die Ergebnisse sollten vor allem die Gesundheitspolitik hellhörig machen, schreibt Dirk Brockmann vom Robert-Koch-Institut in einem Begleitkommentar. Derzeitige Informationskampagne stellen vor allem die Vorteile für den Einzelnen ins Zentrum. Sie sollten Impfen auch als einen sozialen Akt darstellen.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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