Super-Gedächtnis ist erlernbar

Gedächtnisathleten können sich bis zu 100 Wörter in fünf Minuten einprägen. Ein Experiment von Hirnforschern zeigt: Solche Leistungen sind im Prinzip erlernbar. Auch Normalsterbliche können sich ein Super-Gedächtnis antrainieren.

Schachweltmeister Magnus Carlsen bescheinigen Fachleute ein kolossales Gedächtnis, kraft dessen er tausende Stellungen abzurufen und die Komplikationen des königlichen Spiels scheinbar mühelos zu bewältigen vermag.

Seine spielerische Überlegenheit hat ihm den Spitznamen „Mozart des Schachs“ eingebracht, dabei wird Carlsen in Interviews nicht müde zu betonen, er sei eigentlich ein ganz normaler junger Mann. Telefonnummern könne er sich nämlich keine merken, sagt er. Und im Supermarkt vergesse er die Hälfte der Lebensmittel, wenn ihm seine Mutter keine Liste mitgebe.

Magnus Carlsen am Schachbrett

AP Photo/Jeff Roberson

Merkt sich unzählige Schachpartien - aber keine Telefonnummern: Weltmeister Magnus Carlsen

Wie passt das mit seinem Image als Schachgenie zusammen? Vielleicht ist da gar kein Widerspruch. Das legt zumindest eine Untersuchung des deutschen Neurowissenschaftlers Martin Dresler nahe.

Dresler rekrutierte für seine letzte Studie 23 Frauen und Männer und unterzog sie einem Gedächtnistraining. Zu Beginn des Versuches konnten sich die Probanden aus einer 72 Begriffe umfassenden Wortliste 26 merken. Sechs Wochen später waren es beeindruckende 62.

Mnemotechnik: Gedanklicher Spaziergang

Die Mnemotechnik, die die Probanden während des täglichen halbstündigen Trainings anwandten, nennt sich Loci-Methode: Dabei verknüpft man zunächst jeden Begriff mit einem Ort, Gebäude oder Platz. Dadurch wird aus der abstrakten Reihe eine Reise, bei der man sich gedanklich von einem Ort zum nächsten bewegt.

Dass auf diese Weise Inhalte besser im Gedächtnis haften bleiben, wussten schon die alten Griechen und Römer (Cicero beschrieb die Methode etwa in „De oratore“) - und daran hat sich bis heute wenig geändert: Wenn sich die Teilnehmer von sportlichen Gedächtniswettbewerben absurd lange Wort- und Zahlenreihen einprägen, dann tun sie das in der Regel mit der antiken Loci-Methode.

23 solche Gedächtnissportler, darunter auch einige Weltmeister, hat Dresler für seine Studie ebenfalls ins Labor gebeten. Der Neurowissenschaftler wollte durch Gehirnscans herausfinden, was die Besten in diesem Fach von seinen Probanden unterscheidet. „Ich hätte erwartet, dass bei den Gedächtnissportlern manche Hirnstrukturen stärker ausgeprägt sind. Doch das war nicht der Fall, ihre Anatomie war völlig unauffällig“, sagt Dresler.

Spuren im Neuro-Netzwerk

Im Detail wurden die Forscher dann allerdings doch fündig. Die Verbindungen zwischen dem präfrontalen Cortex und anderen Hirnarealen (zum Beispiel solchen, die mit dem räumlichen Denken zu tun haben) wiesen bei den Gedächtnissportlern ein bestimmtes Muster auf. Dieses Muster ließ sich bei den untrainierten Probanden zunächst nicht nachweisen. Nach ihrem sechswöchigen Training hingegen schon.

Fazit der Forscher: Ist das Gedächtnis einmal durch die Loci-Methode speziell trainiert, hinterlässt das im neuronalen Netzwerk Spuren. Und je klarer diese Spuren sind, desto besser ist auch die Merkfähigkeit.

Dass Weltmeister Magnus Carlsen abseits des Schachs mitunter zerstreut ist, überrascht Dresler nicht: „Genau das erzählen mir auch die Gedächtnissportler. Wenn sie ihre Mnemotechniken nicht einsetzen, merken sie sich auch nicht mehr als alle anderen.“

Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: