Kriege und Seuchen: Die großen Gleichmacher

Mehr Bildung und Sozialpolitik: Das gilt heute als Mittel gegen ein Auseinanderdriften von Arm und Reich. Über die Jahrtausende hinweg waren es aber laut dem Historiker Walter Scheidel andere Dinge, die für mehr Gleichheit sorgten: Kriege und Seuchen.

Natürlich helfen die historisch relativ neuen Instrumente der Qualifizierung durch Bildung und sozialpolitische Maßnahmen dabei, das bestehende Ausmaß an ungleicher Verteilung von Einkommen und Gütern einigermaßen im Zaum zu halten, sagte Scheidel im Gespräch mit der APA. „Aber wenn es darum geht, einen bestehenden Grad an Ungleichverteilung deutlich zu vermindern, dann funktioniert das nicht so gut. Dafür braucht es - aus historischer Sicht - dramatischere Veränderungen.“

Gewalttätige Neustarts

Im Grunde könne man auch das breitere Ausrollen höherer Bildung und der Sozialpolitik als Reaktion auf die „gewaltsamen Schocks“ der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstehen, so der Professor an der Stanford University (Kalifornien), dessen Analyse unter dem Buchtitel „The Great Leveler“ aktuell viel mediale Aufmerksamkeit und erstaunlicherweise wenig Widerspruch in der Forschungsgemeinde auf sich zieht.

Vorträge und Buch

Walter Scheidel: „Was reduziert Ungleichheit?“, 27. März, 18.00 Uhr, Festsaal der ÖAW, Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien und „The Great Leveler“, 29. März, 17.00 Uhr, Raiffeisen Lecture Hall des IST Austria, Maria Gugging.

Buch: „The Great Leveler: Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century“, Princeton University Press (Einleitung als PDF)

Seine Schlüsse zieht er aus Beobachtungen über sehr lange Zeiträume hinweg: „Das hat bisher noch niemand gemacht“, sagte Scheidel. „Wenn man sich das aber über solche Perioden ansieht, erkennt man einen Rhythmus.“

Die Ungleichheit steige langsam an oder sei auf hohem Niveau stabil. Ab und zu gebe es dann eine Art Neustart - eben durch Krieg, Seuchen oder Naturkatastrophen. „Das drückt die Ungleichheit sehr stark und oft sehr plötzlich hinunter. Wenn dieser Effekt verschwindet, kehrt man wieder zum ursprünglichen Trend der wachsenden Ungleichheit zurück. Das hat sich in Europa schon mehrfach wiederholt“, so der Historiker, der als Beispiel die Zeit vor und nach der Französischen Revolution anführte.

Ausnahme Lateinamerika

Angesichts dessen werde auch klar, wie lange sehr ungleiche Systeme bestehen bleiben können. Denn in anderen europäischen Ländern war die Ausgangssituation nicht unbedingt anders - Revolution fand beispielsweise im Habsburgerreich trotzdem keine statt. Der Zusammenbruch und gleichzeitig der Beginn einer größeren Veränderung Richtung materiellem Ausgleich kam erst mit der Katastrophe des Ersten Weltkrieges.

Ausnahmen von dem von Scheidel identifizierten überraschend simplen Mechanismus seien überraschend rar: So habe sich in Teilen Lateinamerikas die Einkommensungleichheit ungefähr seit dem Jahr 2000 ohne großen Krach verringert. Allerdings war die Ungleichheit davor in der Region schon extrem hoch. Unter solchen Bedingungen ließen sich auch mit „relativ bescheidenen Reformen“ bereits sichtbare Verbesserungen erzielen. Das gebe zwar Hoffnung, ob der Weg in der Region weiter gegangen wird, sei momentan aber fraglich.

Ungleichheit nimmt wieder zu

Europa habe sich in den vergangenen Jahrzehnten durch gesellschaftspolitische Umverteilungen in einer Phase relativer Gleichheit befunden, „jetzt sind wir vielleicht schon auf dem aufsteigenden Pfad“, vermutet der Historiker. In den USA habe sich die Ungleichheit in der letzten Generation mittlerweile verdoppelt. Dort sprechen viele schon davon, dass die Schieflage mittlerweile mit den 1920er Jahren vergleichbar ist - wenn auch auf insgesamt weit höherem Niveau.

Gewissermaßen ein Randsymptom des Auseinanderdriftens lasse sich an den US-Unis beobachten. Gerade Leute aus dem Bereich der Geistes-und Sozialwissenschaften seien von der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten völlig überrumpelt worden. Das liege daran, dass man sich hier in einer „eindimensionalen Umgebung“ befinde, wo mehr oder weniger alle „einer bestimmten politischen Richtung anhängen. Es gibt ‚Konservative‘ nur als Feindbild - und das ist ein Problem“, so Scheidel. „Als Europäer war ich von Trump weniger überrascht als viele meiner Kollegen.“

science.ORF.at/APA

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