Big Data führt zu „Big Needs“

Onlinekonsum könne ökologischer sein als der Einkauf im Geschäft nebenan, meint der Sozialwissenschaftler Tilman Santarius. Generell aber machen digitale Spuren unsere Wünsche immer größer, aus Big Data sprießen „Big Needs“ – und das schade der Umwelt.

Es wird immer mehr konsumiert, das zeigt etwa der steigende Energieverbrauch in industrialisierten Ländern wie Österreich. Im Laufe der vergangenen 40 Jahre hat sich dieser fast verdoppelt – Tendenz weiter steigend. Mit ein Grund ist die Digitalisierung von unterschiedlichen Lebensbereichen, egal ob beim Musikhören, Einkaufen oder Lesen. Denn die Digitalisierung regt unseren Konsum an, erklärt der Soziologe und Gesellschaftswissenschaftler Tilman Santarius, der an der Technischen Universität Berlin eine Forschungsgruppe zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit leitet. Dennoch will er Onlineshopping nicht „verteufeln“.

science.ORF.at: Haben Sie ein Amazon-Konto?

Tilman Santarius: Nein.

Warum nicht?

Amazon ist der größte Online-Händler und hat verschiedenste Methoden perfektioniert, um Konsum weiter anzuregen und dafür unsere Privatsphäre zu untergraben. Das lehne ich ab. Es gibt verschiedene Alternativen, die das nicht tun. Ein nachhaltigerer Onlineversand ist beispielsweise der Avocado Store. Da kann man teils ähnliche Produkte wie auf Amazon erwerben.

Machen Sie Onlineshopping?

Durchaus, beispielsweise kaufe ich Gewürze oder auch nachhaltige Kleidung, die ich nicht im Handel bekomme. Und ich geb’s ja zu: wie viele andere kaufe ich, aus Zeitmangel, meine Weihnachtsgeschenke online.

Widerspricht Onlinehandel nicht dem Prinzip von Nachhaltigkeit?

Nachhaltiger Konsum beinhaltet mindestens zwei Dimensionen: einerseits die fairen und ökologisch nachhaltigen Herstellungsbedingungen der Produkte und Dienstleistungen. Andererseits geht´s darum, den Konsum zu reduzieren. Hier sehe ich nicht, wie Onlinehandel einen Vorteil bringen soll.

Ich würde ihn aber nicht generell verteufeln. Es gibt sogar ökologische Chancen. Es kommt immer drauf an, welche Handlung ich in Bezug setze. Fahre ich jetzt nur deshalb mit dem Auto in die Stadt, um einkaufen zu gehen, dann können Lieferservices von Onlinehändlern ökologisch im Vorteil sein. Das gilt natürlich nicht für Menschen, die im Stadtgebiet wohnen und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Rad zum Shoppen kommen.

Das Problem beim Onlinehandel ist eher das Sammeln von Nutzerdaten – was wir uns ansehen, was wir kaufen, wie oft wir kaufen. Die Auswertung von Big Data führt hinterher zu Big Needs. Durch die aus den Daten gespeisten Algorithmen werden unsere digitalen Geräte zu den smartesten Verkäufern. Dann wird es viel schwerer werden, dem Angebot zu widerstehen als bei heutigen Werbungen.

Veranstaltungshinweis

Tilman Santarius hält am Donnerstag, 11.5. um 18 Uhr im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Mut zur Nachhaltigkeit“ in Wien einen Vortrag zum Thema „Auf dem Weg in die digitale Zukunft. Chancen und Risiken“. Veranstalter der Vortragsreihe ist das Umweltbundesamt.

Wenn Sie eine Gesamtrechnung durchführen müssten: Wie wirkt sich die Digitalisierung insgesamt auf die Umwelt aus?

Im besten Fall ist es ein Nullsummenspiel. Das, was man mit der Digitalisierung an Effizienz steigert, verpufft durch den Mehrkonsum. Die Wahrscheinlichkeit ist aber hoch, dass die Digitalisierung den Mehrkonsum noch stärker antreibt und uns vom Nachhaltigkeitspfad weiter wegbringt.

Wie ist das etwa bei Musik: Schadet Downloaden der Umwelt?

Das Herunterladen von einem Album als MP3 spart gegenüber dem Kauf einer CD ein bis zwei Kilogramm CO2. Jetzt muss man aber gegenrechnen, wie viel für die Produktion eines MP3-Players anfällt. Das ist hier nicht eingerechnet. Bei einem iPod sind das etwa 70 Kilo Kohlendioxid. Das heißt, dass erst nach 50 heruntergeladenen Alben, das sind ungefähr 600 Songs, die Digitalisierung überhaupt erst anfängt, sich positiv auszuwirken.

Ein zweiter Aspekt ist, dass heute viel mehr Musik konsumiert wird als früher. Deshalb kommen wir insgesamt in eine negative Bilanz.

Viele konsumieren ja Musik über ihr Handy, das heißt hier fällt der MP3-Player weg.

Das stimmt, hier gibt es durchaus Potenzial. Geräte wie Smartphones oder Tablets werden für eine Vielzahl von Funktionen verwendet, was natürlich Material- und Energieeinsparungen mit sich bringt. Jedoch kann man hier beobachten, dass Musik gar nicht mehr heruntergeladen, sondern gestreamt wird.

Streaming würde gegenüber dem Kauf einer CD zwar auch Energie und Material einsparen. Das Problem ist aber, dass man die Lieder nicht einmal, sondern viele Male streamt. Dadurch verschlechtert sich die Bilanz wieder.

Gibt es auch hier eine konkrete Rechnung?

Für Musik kenne ich keine Studie, aber für Filme. Wenn man ein Video streamt und das in Vergleich zu einem postalischen DVD-Verleih setzt - also wo mir die DVD zugesandt wird und ich sie per Post wieder zurückschicke - dann besteht eine identische Emissionsbilanz. In der Summe ist die aber leider auch wieder negativ. Denn es werden mehr Filme und Videos gestreamt, als früher ausgeliehen wurden.

Wo lässt sich denn bei der Digitalisierung etwas einsparen - beim E-Reader?

Auch hier kommt es darauf an. Durch den E-Reader fallen die gefällten Bäume, die Chemikalien, Druckerfarbe, Einband etc. weg. Auf der anderen Seite muss man die Produktion des E-Readers gegenrechnen. Das sind etwa 15 Kilo unterschiedlichste Materialien, 300 Liter Wasser und 170 Kilo CO2. Daraus ergibt sich, dass der E-reader es erst nach 30 bis 50 Büchern mit herkömmlichen Büchern aufnehmen kann.

Wer ein Viel-Leser ist und auf seinen E-Reader achtgibt, ist damit ab einem gewissen Punkt ökologischer als mit einem Buch. Besser aber wären konventionelle Bücher, die nach dem Lesen an andere weitergegeben oder gleich aus Büchereien ausgeliehen werden.

Insgesamt gilt: Der bloße Austausch analoger durch digitale Dienstleistungen und Produkte reicht nicht aus. Nur wenn wir Digitalisierung nutzen, um soziale Innovationen zu erzeugen, also unsere nicht-nachhaltige Produktions- und Konsummuster abzulösen, führt das zu mehr Nachhaltigkeit.

Interview: Ruth Hutsteiner, science.ORF.at

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