Tontafel stellt Mathematik auf den Kopf

Forscher wollen das Rätsel um die babylonische Tontafel Plimpton 322 geknackt haben. Ihre Untersuchung stellt nicht nur den Titel von Griechenland als „Geburtsstätte der Trigonometrie“, sondern auch mathematische Grundlagen in Frage.

Erstellt wurde die knapp 13 mal neun Zentimeter große Tafel etwa 1800 vor Christus in Babylon, im heutigen Irak. Lange Zeit vergessen, wurde sie erst im frühen 19. Jahrhundert vom berühmten Archäologen Edgar Banks wiederentdeckt.

Geschichte einer Tontafel

Jahrelang zerbrachen sich Forscher den Kopf über die Bedeutung der vier Spalten und 15 Zeilen auf der Tafel. Den ersten Durchbruch schaffte Otto Neugebauer 1945. Der gebürtige Innsbrucker fand in zwei Spalten Zahlenpaare, die Teil eines pythagoreischen Tripels sind. Damals nahezu ein mathematischer Skandal. Denn das bedeutete, dass die Babylonier den pythagoreischen Lehrsatz hunderte Jahre vor seinem Namensheber entdeckt haben.

Studie

“Plimpton 322 is Babylonian exact sexagesimal trigonometry", Historia Mathematica, 24. 8. 2017

Viele Fragen blieben aber bis heute ungeklärt: Was genau steckt hinter der Auflistung? Wozu hat man sich die Mühe gemacht und die Zahlen berechnet? Und was bedeuten die anderen beiden Spalten?

Die Forscher um Daniel Mansfield, von der Universität von New Sout Whales, glauben jetzt die Antwort auf all das gefunden zu haben. Dazu mussten sie „nur“ ihren mathematischen Horizont erweitern. Denn Mathematik sah bei den Babyloniern gänzlich anders aus als heute.

Die Basis macht’s

Die erste Hürde für die Forscher: Das Rechensystem. Heute gilt das Dezimalsystem mit Basis Zehn als Standard. Der Grund dafür liegt wortwörtlich auf der Hand: Denn mit zehn Fingern (die gerne zum Zählen verwendet werden) ist das natürlich sehr praktisch.

Die Babylonier wollten mit ihrer Basis aber höher hinaus. Sie rechneten in einem „Sexagesimalsystem“. Die Basis hier: 60. Hört sich zunächst kompliziert an – ist es aber nicht! Das System hat viele Vorteile und wird sogar heute noch verwendet. Wer das nicht glauben will: Ein kurzer Blick auf die Uhr genügt. Denn das kreisrunde Ziffernblatt ist in genau 60 Minuten geteilt und jede von ihnen dauert exakt 60 Sekunden.

Exakte Trigonometrie

Als nächstes kombinierten die Forscher die Zahlen und suchten nach einem Zusammenhang zwischen den Spalten. Mit Erfolg! „Unsere Nachforschungen haben gezeigt, dass auf der Tontafel Plimpton 322 rechtwinkelige Dreiecke beschreiben werden“, erzählt Mansfield in einer Aussendung.

Die Schwierigkeit dabei: Die Babylonier haben dabei nicht, wie bei der griechischen Trigonometrie üblich, mit Winkelfunktionen gearbeitet. „Sie haben eine andere Form von Trigonometrie verwendet, die auf dem Verhältnis der Dreiecksseiten beruht“, so Mansfield.

Er vermutet, dass in der ersten Spalte das quadrierte Verhältnis aus Hypotenuse und der längeren Kathete steht, die zweite Spalte gibt die Länge der kurzen Kathete an, die dritte die Länge der Hypotenuse und die letzte Spalte ist lediglich der Zeilenindex, wie Mansfield gegenüber science.ORF.at erklärt. Wahrscheinlich sollte die Tafel Schriftgelehrten dabei helfen, Paläste, Tempel und Kanäle zu konstruieren.

„Faszinierend und zeugt von wahrem Genie“

Lange Zeit galt Hipparchos als Vater der Trigonometrie. Die Babylonier machen ihm diesen Titel jetzt aber streitig. Denn sie sind ihm scheinbar über 1.000 Jahre zuvor gekommen.

Mansfield: „Die Tafel ist nicht nur die älteste, sondern auch die einzige, gänzlich akkurate, trigonometrische Auflistung.“ Dafür sorgt die Kombination aus dem 60er-Zahlensystem und der genauen Trigonometrie. In ihrem Artikel bezeichnen sie das als die „Babylonian Exact Sexagesimal Trigonometry“.

Nicht alle halten die Erkenntnisse von Mansfield für so sensationell. So meint etwa Pieter Moree vom Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn, dass die Idee gar nicht so neu sei. „Es gibt sehr viele Erklärungsansätze zu Plimpton 322.“ Die Deutung sei nur eine Möglichkeit davon und in ähnlicher Weise auch schon angeregt worden.

Video: Mansfield erklärt die Entdeckung

Mansfield indes ist überzeugt von seiner Erklärung: „Mit Hilfe von Plimpton 322 haben wir eine neue Art von Trigonometrie gefunden, die klare Vorteile gegenüber unserer hat." Er sieht großes Potenzial in den „neuentdeckten“ Grundlagen: „Die babylonische Mathematik ist seit über 3.000 Jahren außer Mode. Man könnte sie jetzt aber beispielsweise für Vermessungen, Computergrafiken und auch im Bildungssektor einsetzen.“

„Das ist eines der sehr seltenen Beispiele dafür, wie die antike Welt uns heute noch etwas Neues beibringen kann.“ Plimpton 322 ist nur eine der etwa 500.000 Tontafeln, die man gefunden hat. Die Forscher wollen jetzt untersuchen, wie viel mathematische Brillanz in den anderen steckt.

Anita Zolles, science.ORF.at/dpa (Material)

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