Zweite Karriere als „guter Nazi“

Albert Speer war direkt an der Errichtung von Konzentrationslagern beteiligt. In Nürnberg verurteilt, machte der NS-Rüstungsminister nach seiner Haftentlassung 1966 eine erstaunliche zweite Karriere: als Entlastungszeuge und „guter Nazi“.

Der einstige Architekt und Freund Hitlers spielte fast der ganzen Welt vor, vom Holocaust nichts gewusst und lediglich Befehle befolgt zu haben. Seine Bücher, die „Erinnerungen“ (1969) und die „Spandauer Tagebücher“ (1975), waren große Erfolge.

Die Politikwissenschaftlerin Isabell Trommer hat die Wahrnehmung Speers in der deutschen Öffentlichkeit von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart untersucht. Am Donnerstag war sie Gast eines Vortrags am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien.

science.ORF.at: Warum war Albert Speer der „‘Lieblingstäter‘ der Deutschen“, wie es der Historiker Peter Reichel einmal genannt hat?

Isabell Trommer: Weil es 1966, als er aus dem Gefängnis in Spandau entlassen wurde, in der deutschen Gesellschaft noch ein starkes Bedürfnis nach Entlastung und Rechtfertigung gegeben hat. Wenn einer der wichtigsten Minister und Vertrauten Hitlers behaupten konnte, er habe nichts vom Holocaust gewusst, konnten das jeder einfache Deutscher und jede einfache Deutsche auch behaupten.

Dennoch war er ein verurteilter Kriegsverbrecher, der die 20 Jahre, die er bei den Nürnberger Prozessen bekam, auch abgesessen hat …

Porträtfoto von Isabell Trommer

ORF - Lukas Wieselberg

Isabell Trommer ist Politikwissenschaftlerin und Lektorin. Ihr Buch „Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik“ ist im Campus-Verlag erschienen.

Trommer: Ja, aber man hat ihn merkwürdigerweise nicht wirklich als Täter gesehen. In den 60er Jahren herrschte die Vorstellung vor, dass die Nazis allesamt pathologische Gestalten waren. Dann kam Speer aus dem Gefängnis, im Anzug, immer gepflegt und mit guten Manieren: ein bürgerlicher Habitus, der viel angenehmer war als das Bild, das man sonst von einem Nazi hatte. Das war im Grunde eine Klassenfrage.

Hat sich Speer jemals zu seiner Mitverantwortung für den Holocaust bekannt?

Trommer: Nein, aber er hat seine Rechtfertigungen variiert und später Formulierungen gewählt wie: „Ich hätte Bescheid wissen können“, „ich hatte eine vage Ahnung“ oder „ich habe den Begriff Auschwitz nicht direkt gehört“.

Speer galt lange Zeit nicht nur als „der gute Nazi“, sondern auch als „Architekt Hitlers“. Wie ist ihm diese Stilisierung gelungen?

Trommer: Das war schon die Hauptlinie der Verteidigung bei den Nürnberger Prozessen. Speer habe demzufolge in erster Linie technisch agiert und sei auf seine fachliche Arbeit konzentriert gewesen. Die ideologischen Dinge hätten die richtig bösen Nazis gemacht, Himmler und die SS. Das seien die wahren Nazis, Speer nur ein Architekt.

Eine Strategie, um seinen Hals zu retten?

Trommer: Ja, und sie hat gut funktioniert. Der heutige Forschungsstand sagt: Hätten die Richter gewusst, was Speer alles getan hat – etwa seine Mitarbeit bei der Errichtung von Konzentrationslagern oder die Vertreibung der Berliner Juden aus ihren Wohnungen -, wäre Speer vermutlich zum Tode verurteilt worden. So aber ist seine Strategie, bloß ein Techniker gewesen zu sein, aufgegangen. Wichtig für das Urteil im Prozess war auch, dass Speer als einziger Angeklagter eine Gesamtverantwortung übernommen hat – das kam bei den Richtern gut an. Sobald es aber um Detailfragen ging, bestand Speer darauf, dass er nichts wusste und nicht verantwortlich war. Es übernahm zwar generös eine allgemeine Verantwortung, aber keine konkrete Schuld.

Wie haben sich die „alten Kameraden“ nach seiner Entlassung verhalten?

Trommer: Speer hatte viele alte Mitarbeiter im Rüstungsministerium, die in der jungen BRD sehr erfolgreich wurden, etwa der Architekt Rudolf Wolters. Dieser ist ein Nazi geblieben und hat Speer nach der Entlassung als Verräter betrachtet – so wie das auch andere alte Kameraden getan haben. Er hat ihre Nähe nicht gesucht, denn sonst hätte sein anderes, bürgerliches Image nicht funktioniert.

Albert Speer neben anderen prominenten Nazis auf der Anklagebank in Nürnberg im Oktober 1946

AFP

Albert Speer neben anderen prominenten Nazis auf der Anklagebank in Nürnberg im Oktober 1946

Wann begann sich das Bild von Speer zu wandeln?

Trommer: In den 15 Jahren nach seiner Entlassung war er in erster Linie „der Entlastungszeuge“. Die Wende begann erst mit seinem Tod 1981. Danach erschien eine erste Dissertation, die sich bemühte, die Legende zu zerlegen. Im Mittelpunkt stand da die Vertreibung der Berliner Juden aus ihren Wohnungen im September 1938 – noch vor dem Novemberpogrom. In den 90er Jahren gab es eher einen Rückschritt, es erschienen drei Speer-Biografien – von Gitta Sereny, Joachim Fest und Dan van der Vat –, die den Forschungsstand nicht vorangetrieben haben. Danach aber machte eine neue Generation fleißig Forschungsarbeit in Archiven. Die vielen neuen Aspekte hat der Regisseur Heinrich Breloer dann in dem 2005 ausgestrahlten TV-Film „Speer und Er“ zusammengetragen. Der Film hat Speers Bild in der breiten Öffentlichkeit stark verändert. Die Forschung hatte die Wahrheit zwar schon länger gewusst, aber manchmal braucht es ein TV-Event, um sie in die Öffentlichkeit zu tragen.

War das bereits der Schlusspunkt in der Speer-Forschung?

Trommer: Nur ein vorläufiger. Einige Jahre danach haben sich Historiker und Historikerinnen die Sache noch einmal kleinteiliger angesehen. Und bis vor Kurzem gab es auch keine umfassende Speer-Biografie, die dem Forschungsstand entspricht und keine Apologien enthält. Erst 2017 hat sie Magnus Brechtken veröffentlicht: „Albert Speer - eine deutsche Karriere“

Warum hat das so lange gedauert? Hat es nicht auch viel früher Historiker gegeben, die Speers Selbstinszenierung nicht für bare Münze genommen haben?

Trommer: Es hat sie gegeben, aber man hat sie nicht wahrgenommen. Raul Hilberg etwa hat schon in den 60er Jahren am Rande über Speers Verbrechen geschrieben. Aber das entsprechende Buch wurde erst in den 80er Jahren auf Deutsch übersetzt und zuvor in Deutschland schlicht nicht gelesen. Der deutsche Historiker Enno Georg hat bereits 1963 ein Buch über SS-Unternehmen geschrieben. Darin stand auch, dass Speer an der Standortsuche für Konzentrationslager beteiligt war und für seine Bauwerke mit SS-Unternehmen kooperiert und ihnen zinslose Kredite in großen Mengen gewährt hat. Auch dieses Buch wurde nicht rezipiert.

Welches Bild von Speer herrschte zu diesem Zeitpunkt unter Historikern vor?

Trommer: Man hat sich nicht besonders für ihn interessiert. Es gab einen großen Medienrummel nach Speers Entlassung, er schrieb Bücher und machte eine zweite Karriere als Zeitzeuge – und dabei gute Geschäfte. Seine „Erinnerungen“ und „Spandauer Tagebücher“ wurden sehr positiv rezipiert, und daran waren auch deutsche Historiker beteiligt wie Hans Mommsen und Eberhard Jäckel. Generell war in der Geschichtswissenschaft die Holocaustforschung noch nicht etabliert. Es standen andere Dinge im Mittelpunkt, wie etwa Speers Erzählungen zu Einzelheiten von Hitler. In den 60er Jahren ging es viel um Strukturen des Nationalsozialismus und nicht um einzelne Biografien. Speer wurde als Zeitzeuge betrachtet, aber nicht als Gegenstand der Untersuchung. Und niemand hat seine Aussagen mit den Quellen abgeglichen.

Das ist aus heutiger Sicht erstaunlich – nicht zuletzt, da es ab 1963 auch die Frankfurter Auschwitzprozesse gegeben hat …

Trommer: Ja, und dabei hatte man immer Vorurteile gegenüber Opferzeugen. Es hieß, sie seien zu emotional, würden ein verzerrtes Bild darstellen. Derartige Probleme hatte man mit Täterzeugen wie Speer überhaupt nicht, das ist wirklich erstaunlich.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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