Philosophen im Weltall

Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltraum, hat 1961 auch die Philosophie erschüttert - speziell die „verwurzelte“ eines Martin Heidegger. Warum auch das Wienerische einen Perspektivwechsel auf die Erde bieten kann, erklärt der Germanist Jörg Kreienbrock in einem Gastbeitrag.

In einem 1963 veröffentlichten Text – knapp zwei Jahre nach Juri Gagarins erstem Weltraumflug am 12. April 1961 – deutet Theodor W. Adorno Gustav Mahlers Lied der Erde aus der Perspektive des Weltraums:

Porträtfoto von Jörg Kreienbrock

IFK

Über den Autor

Jörg Kreienbrock ist Associate Professor am Department of German and Critical Thought and Comparative Literary Studies an der Northwestern University, Evanston (USA) und derzeit Senior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz in Wien.

„Von [der Erde] heißt es [...], dass sie lange – nicht ewig – fest stehe, und der Abschied Nehmende nennt sie gar die liebe Erde, als die im Verschwinden umfasste. Sie ist dem Werk nicht das All, sondern was fünfzig Jahre später die Erfahrung des in großen Höhen Fliegenden einholen durfte, ein Stern. Dem Blick der Musik, der sie verlässt, rundet sie sich zur überschaubaren Kugel, wie man sie mittlerweile aus dem Weltraum bereits fotografiert hat, nicht das Zentrum der Schöpfung sondern ein Winziges und Ephemeres […]. Aber die sich selber ferngerückte Erde ist ohne die Hoffnung, die einst die Sterne verhießen.”

Die Erde ein Stern unter vielen. Winzig-Ephemer, dem Menschen „ferngerückt”, erscheint sie verrückt als Sinnbild des Exzentrischen. Der Mensch wird in dieser Lage, wie es Friedrich Nietzsche mit Verweis auf Kopernikus notiert: „zufälliger, eckensteherischer, entbehrlicher in der sichtbaren Ordnung der Dinge.” Während die kopernikanische Wende für Nietzsche als das Emblem für die Gefahr der nihilistischen Selbstverkleinerung des Menschen fungiert, erscheint für Adorno im Verrückten, Ex-zentrischen, die Schönheit des Ephemeren im Bild der verschwindenden Erde.

Diese Schönheit liegt für Adorno nicht nur in der Musik Mahlers, sondern gerade auch in einer Sprache, die sich von dieser Erde verabschiedet. So imaginiert Adorno in einem „Wörter aus der Fremde” betitelten Aufsatz eine Utopie der Sprache, die “ohne Erde, ohne Gebundenheit an den Bann des geschichtlich Daseienden” zu denken sei, oder, wie es im Mahler-Essay heißt, einer „Erde ohne Erde.”

In etwa so hat Gagarin die Erde gesehen

NASA/NOAA/GSFC/Suomi NPP/VIIRS/Norman Kuring

In etwa so hat Gagarin die Erde gesehen

Wienerisch als Weltsprache ohne Erde

Das berückende Versprechen auf die Befreiung aus dem Bann mythischer Örter, das sich in einer entrückend-verrückenden Rückkehr zur Erde ankündigt, fasst diese nicht mehr als eine Ordnung bestimmter Wohnsitze. Es klingt an in Fremdwörtern, aber auch in einem Sprechen, das – wie die Musik – klanglich das Eigene leicht entstellt. Eine solche Rede entdeckt Adorno im Dialekt. So heißt es in einem frühen Text über Franz Schubert aus dem Jahr 1928: „Die Sprache Schuberts ist Dialekt […] ein Dialekt ohne Erde. Er hat die Konkretion der Heimat; aber es ist keine Heimat hier sondern eine erinnerte. Nirgends ist Schubert der Erde ferner, als wo er sie zitiert.”

Der Dialekt ist die Entstellung einer Vorstellung von Sprache, welche diese als etwas unverrückbar Verwurzeltes vorstellt. Zwar ist sie ist an einen Ort, eine Stadt, eine Landschaft gebunden, und „hat die Konkretion der Heimat” – aber gleichzeitig ist sie eine, die dem avancierten Künstler eignet und jegliche Grenze transzendiert. Der Dialekt ist die Intensivierung der Konkretion, er partikularisiert die Idee einer Nationalsprache. Aber gerade diese Steigerung des Idiomatischen kann Sprache aus dem mythischen Bann des bestimmten Ortes befreien.

Adorno weiter über Schubert: „Das Wienerische, als Dialekt, war die wahre Weltsprache der Musik. […] Wienerisch reden noch viele Themen von Mahler, von Berg; insgeheim, und darum umso nachdrücklicher, spricht selbst Webern das Idiom.” Die Weltsprache der Musik gleicht einem Sprechen ohne Erde, in welchem der Dialekt die Heimat transzendiert, das Eigene nicht als Gegensatz zum Fremden gedacht wird, und die Leichtigkeit der Rede die Schwere des Bodens überwindet. Und so kann der Wienerische Dialekt zu einer wahren Weltsprache ohne Erde werden.

Gagarin gegen Heidegger

„Fremdwörter sind die Juden der Sprache” – so fasst Adorno in einer bekannten Stelle der Minima Moralia die eigenwillige Diaspora des ins Eigene verrückten Fremdworts zusammen. Dieses ist in das Autochthone der Muttersprachen und Vaterländer verschlagen - ohne Erde, Heimat, Wurzel. Die antisemitischen Stereotype des Judentums, das als wurzellos, transgressiv oder zersetzend aufgefasst wird, kennzeichnet auch die exzentrische Existenz der Fremdwörter. Diejenige, die ein Fremdwort gebraucht, wird zum Juden in der Sprache, sie erschüttert das Eigene im Namen des Fremden. Eine solch weltläufig-idiomatische Rede, deren Wörter aus der Fremde kommen, entzieht der Sprache die Erde, macht sie leichter, entzieht sie dem Bann des Ortes.

Veranstaltungshinweis

Am 4.6. hält Jörg Kreienböck den Vortrag: “Die Umwelt des Astronomen: Philosophieren im Weltraum". Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Adornos Vorstellung einer solchen Sprache ohne Erde kommt auf andere Weise in einem kurzen Essay des litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Lévinas aus dem Jahr 1962 zur Sprache. Unter dem Titel „Heidegger, Gagarin und wir” entwickelt dieser eine kleine Theorie einer Philosophie im Weltall. Lévinas schreibt über Gagarin: „Eine Stunde lang hat ein Mensch, außerhalb jedes Horizonts existiert – alles um ihn herum war Himmel, oder genauer, alles war geometrischer Raum. Ein Mensch existierte im Absoluten des homogenen Raums.”

Für Lévinas stellt Gagarins kurzer Aufenthalt im All den Moment dar, in welchem sich der Mensch aus der Verhaftung in einer konkret-terrestrischen Umwelt gelöst hat, und den Raum absolut erfährt. Ist die Existenz des Menschen auf der Erde immer an das Vorhandensein eines Horizonts gebunden, so öffnet sich dieser mit Gagarin hin sich auf eine andere Dimension. Konkret bedeutet dies, dass mit dem Weltraumflug, Heideggers Philosophie der Verwurzelung in einer spezifischen Landschaft ihre Gültigkeit verliert.

Fotomontage von Juri Gagarin

Robert Couse-Baker/Creative Commons/Flickr

Fotomontage zum 50-Jahr-Jubiläum des Gagarin-Flugs 2011

Kein Unterschied von Alter und Ego

Der Jude Lévinas kritisiert Heideggers Begriff der Bodenständigkeit wie folgt: „Das Eingepflanztsein in eine Landschaft, die Verbundenheit mit dem Ort, ohne den das Universum bedeutungslos würde und kaum existierte – eben dies ist die Spaltung der Menschheit in Einheimische und Fremde.” Im All, so Lévinas, entfällt diese Differenz von Alter und Ego, es kommt zur Beseitigung des Privilegs einer Verwurzelung im Boden der Heimat. Es ist für Heidegger die Schwere der Existenz, die etwa in den berühmten Bauernschuhen van Goghs zum Ausdruck kommt. Die „derbgediegene Schwere des Schuhzeugs”, heißt es in „Der Ursprung des Kunstwerks“, bezeugt die Bodenständigkeit des bäurischen Denkens. Es ist verwurzelt in der schöpferischen Landschaft. Dichten und Denken sind gravitätisch, erdverhaftet, schwer.

Die „Entledigung der Schwere” ist für Lévinas ein definierendes Kennzeichen des Judentums: „Das Judentum ist in Bezug auf die Orte stets frei gewesen.” Dagegen ist das Christentum eine Religion der Wurzeln und Landschaften: “[D]as Christentum”, so Lévinas, behält “die verwurzelte Frömmigkeit bei, die sich von den Landschaften und der Erinnerungen der Familien, der Stammesgruppen, der Nationen nährt. […] Wie die Technik hat [das Judentum] das Universum entmystifiziert. Es hat die Natur entzaubert.” Judaismus und Technologie produzieren eine entmystifizierte Welt. Beide lassen in der reinen Geometrie des Weltalls, “das menschliche Antlitz in seiner Nacktheit aufleuchten.”

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