„Mythos der Neutralität aufgeben“

Emotion statt Fakten: Wenn der Populismus das Sagen hat, dann ist die Wissenschaft in der Defensive. Gerade dann darf sie sich nicht als neutral darstellen, plädiert der Politikwissenschafter Pierre Delvenne für die Disziplin der Technikfolgenabschätzung.

Wie sich Wissenschaft und Technik auf die Gesellschaft auswirken, welche positiven und negativen Folgen sie haben - das untersucht man in der Technikfolgenabschätzung.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmete sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 11.6., 13:55 Uhr.

Aber was gut und was schlecht ist, liegt immer im Auge der Betrachterin bzw. des Betrachters. „Technikfolgenabschätzung ist nicht neutral, und den Mythos der Neutralität muss man endlich aufgeben“, meinte der Politikwissenschaftler Pierre Delvenne von der Universität Liege gegenüber science.ORF.at im Rahmen einer Tagung des Instituts für Technikfolgenabschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.

Wissenschaft im „postfaktischen Zeitalter“

Demokratisierung, Inklusion, Partizipation - von diesen Grundwerten sei die Technikfolgenabschätzung oft geleitet, ohne sich dessen immer bewusst zu sein oder das explizit zu kommunizieren. Ein Fehler, findet Delvenne, gerade im „postfaktischen Zeitalter“, in dem Fakten und Wissenschaft an Relevanz verlieren würden und populistische Politik, die die Emotionen ins Zentrum rückt, stärker werde.

In so einem politischen Klima sei es besonders wichtig, die Grundwerte in Wissenschaft und Forschung zu definieren: „Die Technikfolgenabschätzung riskiert, stark kritisiert zu werden, wenn sie immer so tut, als wäre sie neutral. Populistische Politiker kritisieren das sogenannte Establishment.“ Und die Technikfolgenabschätzung ist ein Teil dieses Establishments: „Sie arbeitet oft eng mit den politischen Entscheidungsträgern zusammen.“

In Österreich steht die Beratung der Politik durch die Technikfolgenabschätzung erst am Anfang. In den USA, Dänemark und Belgien beispielsweise habe sie sich schon in den 1970er-Jahren etabliert, sagt der Politikwissenschaftler. Wenn sie also ihre Grundwerte nicht offenlegt, wird ihr unterstellt, dass sie im Interesse einer Partei oder aus Eigeninteresse arbeitet. Denn der Mythos der Neutralität sei nicht glaubwürdig, so Delvenne.

Was aber, wenn die Populisten selbst in der Regierung sitzen? "Dann dauert es wahrscheinlich nicht lange, bis die extremistischen und autoritären Politiker die Technikfolgenabschätzung kritisieren, weil sie nicht das von ihnen gewünschte Wissen zur Verfügung stellt.“ Und dann stellt sich die Frage: „Kann und will die Technikfolgenabschätzung wirklich für jede politische Führung arbeiten? Also will sie beispielsweise eine autoritäre Regierung zu den Folgen von Gesichtserkennungstechnologien beraten?“ Diesen Fragen müsse sich die Technikfolgenabschätzung stellen – und offen darüber reden, plädiert Delvenne.

Katharina Gruber, Ö1-Wissenschaft

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