Vom Kooperieren und Überleben

Wer in einem Konzentrationslager mit einem anderen Häftling kooperierte, hatte größere Überlebenschancen: So lautete die These des US-Soziologen Elmer Luchterhand 1953. Erst jetzt, 65 Jahre danach, wird seine visionäre Dissertation als Buch veröffentlicht.

Nachdem der US-Offizier Elmer Luchterhand im April 1945 an der Befreiung des Konzentrationslagers Hersbruck beteiligt war, ließen ihn seine Eindrücke nicht mehr los. Er begann Ende der 1940er-Jahre als Soziologiestudent, die Beziehungen der KZ-Häftlinge im Lager untereinander zu untersuchen.

Buch und Veranstaltung

Christian Fleck und Andreas Kranebitter (Hg.): Elmer Luchterhand. Einsame Wölfe und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer Konzentrationslager. Mauthausen-Studien (Band 11). New Academic Press, 2018.

Am 20.6.2018 um 19 Uhr präsentieren die Herausgeber Luchterhands Studie im Depot, Breite Gasse 3, 1070 Wien. Stuart Freeman und Camilla Nielsen lesen aus den Interviewprotokollen.

Luchterhand führte Interviews mit 52 Überlebenden unterschiedlicher Lager. Vier von ihnen isolierten sich während ihrer Zeit im Lager von den anderen Häftlingen - er nannte sie einsame Wölfe. In allen anderen Interviews wurde eine Lagerpartnerin oder ein Lagerpartner beschrieben.

1953 war Luchterhands Dissertation an der Universität Wisconsin eine der ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die sich dem Sozialverhalten von KZ-Insassen widmete. Sie wurde wenig beachtet und geriet schnell in Vergessenheit. „Soziologische Forschung zu Konzentrationslagern gab es nur vereinzelt, in der eigenen Disziplin wurde sie nicht wahrgenommen, in der Geschichtswissenschaft als kurios abgetan“, sagt der Soziologe Andreas Kranebitter, der gemeinsam mit seinem Fachkollegen Christian Fleck Luchterhands Arbeit jetzt erstmals veröffentlicht hat.

Elmer Luchterhand in den 1940er-Jahren

KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Sammlung Erika Luchterhand

Elmer Luchterhand in den 1940er-Jahren

Das Paar als Überlebenseinheit

Luchterhands Hauptthese war, dass Kooperation in Paaren notwendig war, um im Konzentrationslager zu überleben, erklärt Kranebitter: „Da ging es oft auch um Kleinigkeiten, beispielsweise darum, dass jemand auf den Blechnapf aufpassen musste, während man selbst auf die Latrine ging. Da ging es nicht nur um totalen Altruismus, sondern um eine Überlebensnotwendigkeit, um eine Überlebensgemeinschaft.“

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 20.6., 13:55 Uhr.

Außerdem entwickelte sich unter den Häftlingen ein Normensystem, das Luchterhand „prisoner code“ nannte, sagt Kranebitter: „Innerhalb der Häftlingsgesellschaft von anderen zu stehlen, wurde beispielsweise bestraft. In der Selbstjustiz der Häftlinge konnte das durchaus auch mit dem Tode bestraft werden. Das Stehlen aus den Lagerbeständen der SS wurde dagegen gutgeheißen. Das heißt, es wurde unterschieden zwischen Diebstahl und Organisieren, wie das im Lagerjargon genannt wurde.“ Diese und andere Regeln unter den KZ-Insassen erforschte Luchterhand als erster.

Im Gegensatz zu Bruno Bettelheim

Er wollte damit die These des Psychoanalytikers Bruno Bettelheim widerlegen. Bettelheim war selbst von 1938 bis 1939 in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald inhaftiert und stellte 1943 in den USA die These auf, dass sich KZ-Häftlinge an die Gewalt im Lager anpassten. Je länger sie im Lager waren, desto mehr hätten sie sich demnach dem Terror angenähert, bis sie sich zum Schluss gar mit der SS identifiziert hätten.

Neu ankommende Häftlinge hätten sich daher von den anderen Häftlingen isolieren müssen, um psychisch gesund zu bleiben. „Bettelheims These unterstellt zu einem gewissen Grad, dass der Einzelne nur überlebt, wenn er sich verhält wie ein Wolf, das heißt, sich entweder total isoliert oder selbst brutal und gewalttätig wird“, erklärt Kranebitter: „Luchterhand schloss dagegen aus seinen Interviews, dass man während der Haft auch ein kooperatives Verhalten entwickeln konnte oder sogar musste, um zu überleben."

Marschroute der 65th Infantry Division der U.S. Army, der Einheit, in der Elmer Luchterhand diente

Bill Jordy

Marschroute der 65th Infantry Division der U.S. Army, der Einheit, in der Elmer Luchterhand diente

Zwischen Wolfs- und Solidargesellschaft

Bettelheims These war sehr verbreitet, Luchterhands fand dagegen keinen Anklang, so Kranebitter: „Das hegemoniale Menschenbild in den USA der 1950er Jahre war das der Wolfsgesellschaft à la Thomas Hobbes. Und alles, was von dem ein bisschen abgewichen ist, wurde schnell ins kommunistische Eck gestellt.“

In diesem Eck zu stehen konnte Luchterhand nicht vollkommen von der Hand weisen: Vor seiner Zeit in der US-Armee war er kommunistischer Aktivist. „Luchterhand verfiel allerdings nicht in die sowjetische Erzählung, die davon ausging, dass sich unter den Häftlingen eine Solidargemeinschaft unter kommunistischer Führung gegen den Terror gebildet hätte. Luchterhand ging es um die Notwendigkeit von stabilen Paarbeziehungen für das Überleben.“

Relevanz für die Soziologie heute

Soziologische Forschung, die nach dem Sozialverhalten der Opfer fragt, habe erst in den 1990er-Jahren eingesetzt. „Die Frage, wie diese Gesellschaft der Konzentrationslager eigentlich ausgesehen hat und ob es überhaupt eine Gesellschaft unter diesen Bedingungen gab, ist nach wie vor nicht ausreichend erforscht“, sagt Kranebitter.

Für die Forschung heute, die viele Details aus den Konzentrationslagern kennt, sei die Arbeit Luchterhands unter anderem deshalb spannend, weil die Interviews nur vier, fünf Jahre nach dem Holocaust geführt wurden. „Als die Oral History in den 1970er Jahren damit begann, war das erforschte Phänomen 30 Jahre alt. Da bekommt man andere Antworten“, sagt Kranebitter. Und Luchterhand stellte sehr intime Fragen über Beziehungen zu anderen Häftlingen, die man später als zu weitgehend empfunden hätte.

Katharina Gruber, Ö1-Wissenschaft

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