Russisches Roulette: Tod und Spiele

Tod und Spiele sind Schlüsselkategorien im modernen Nachdenken über Menschen und ihr Selbstverhältnis. Besonders gut lässt sich das anhand von Russischem Roulette illustrieren, findet der Kulturwissenschaftler Julian Baller in einem Gastbeitrag.

Spiel und Tod erweisen sich als Schlüsselkategorien im modernen Nachdenken über Subjekte und ihren Selbstbezug. Im Zuge der Erosion des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele, welcher als „Kronjuwel der Metaphysik“ das europäische Denken seit Platon prägte, müssen sich Subjekte in der Moderne zunehmend in Bezug auf ihre Sterblichkeit selbst entwerfen. Dabei erweisen sich Spiele als eigenständige Sphären der Sinnstiftung, die keiner Rückbindung an Gott oder politische Ideologien bedürfen.

Porträtfoto von Julian Baller

IFK

Über den Autor

Julian Baller lehrte am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin, wo er seit Oktober 2016 mit einem Forschungsprojekt zur Geschichte und Ästhetik suizidaler Spiele promoviert. Derzeit ist er Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz in Wien.

Zwischen Schein und Sein kann man werden, wer man möchte. Die Verbindung von Spiel und Tod scheint dabei zunächst durch ein Ausschlussverhältnis bestimmt; denn wer spielt, ist nicht tot. Die für das Spiel typische Freiheit von den Bindungen und moralischen Normen der alltäglichen Lebenswelt und die Offenheit des Ausgangs machen die Spielbewegung zu einem dynamischen Prozess, welcher der Starrheit der Leiche in ihrer Bewegungslosigkeit und totalen Interaktionsverweigerung entgegengesetzt ist.

Nicht umsonst kehren die Toten in vielen Kulturen häufig in Form von Masken zurück, wenn sie in Ritualen von ihrem Träger einen neuen Körper erhalten, der sie in Bewegung versetzt. Spiel, so formuliert es Eugen Fink, ist „ein Lebensimpuls von eigenständigem Wert (…), gleichsam ein Zurücktauchen in morgenfrische Ursprünglichkeit und plastisches Schöpfertum“.

Symbolischer Tod und reale Lebensgefahr

Mit der Möglichkeit von Wiederholung und Neuanfang bilden Spiele eine Gegenwelt zu unserer, im Zeichen der Unumkehrbarkeit stehenden, alltäglichen Existenz. Sybille Krämer wirft zu Recht die Frage auf, ob die spielerische Umkehrbarkeit die kulturelle Gegenwelt zu unserer existenziellen Unumkehrbarkeit bildet und ob damit zu erklären ist, warum der symbolische Tod eines der in Ritualen und Spielen meist verarbeiteten Motive ist.

Symbolischer Tod und reale Lebensgefahr sind dabei nach der ludischen Logik von Einsatz und möglichem Gewinn aufs engste miteinander verschränkt. Besonders deutlich wird dies am Russischen Roulette, dem wohl prominentesten Todesspiel der Moderne. Es verdichtet die Spannung zwischen dem unhintergehbaren Fakt der Sterblichkeit und der Kontingenz des Todeszeitpunkts in einen einzigen Moment und trägt dem zunehmenden Verständnis des Todes als individuell gestaltbarem Projekt Rechnung.

Im Falle des Russischen Roulette deutet alles darauf hin, dass es sich um eine Praxis postfiktionalen Ursprungs handelt, bei der Erzählungen und Phantasmen das Fundament für die Entstehung des realen Phänomens legen. Die statistisch wenig bedeutsame Anzahl realer Fälle kontrastiert in diesem Sinne die enormen Bekanntheit und breiten popkulturellen Rezeption.

Russland als Experimentierfeld

Die erste Erwähnung findet das Russische Roulette 1937 in der, im amerikanischen Wochenmagazin Collier’s erschienen Kurzgeschichte „Russian Roulette“ des schweizerisch-amerikanischen Autors Georges Surdez. Darin wird die Erfindung russischen Offizieren im ersten Weltkrieg zugeschrieben. Der Mythos eines solchen Spiels scheint jedoch älter als die Geschichte von Surdez und durch diese lediglich den emblematischen Namen erhalten zu haben.

Bereits im 1840 erschienenen Roman „Ein Held unserer Zeit“ von Michail Lermontow (1840) wird eine Szene beschrieben, in der eine Gruppe von Soldaten über Schicksal und Vorsehung diskutieren. Im Laufe dieser Diskussion greift einer der Soldaten eine Pistole von der Wand und richtet diese gegen sich selbst und dann gegen die Wand, wobei erst im zweiten Fall ein Schuss fällt.

Lermontows Roman ist jedoch sicher nicht der einzige Grund für die nominelle Verortung des Spiels nach Russland. Im Sinne von Boris Groys formiert sich Russland politisch und kulturell in der Übernahme westlicher Ideen, die es radikalisiert und dann in universalistischer Weise in Frontstellung gegen den Westen bringt. In seiner geografischen Position zwischen Ost und West wird Russland „zu einer Art leerem Experimentierfeld dazwischen, auf dem immer neue Experimente inszeniert und dann wieder abgebrochen werden“.

In Literatur und Kino

Das Motiv der leidenden russischen Seele und einer kulturell bedingten Todessehnsucht, wie es nicht zuletzt von prominenten Russen wie Fjodor Dostojewski und Leo Tolstoi selbst beschrieben wird, trägt seinen Teil zur Mythenbildung bei. Dabei unterscheidet sich der russische Diskurs um Tod und Suizid zwar in seinen Details, nicht aber in seiner Intensität und Todesfaszination von dem des Fin-de-Siecle oder der deutschen Romantik.

Veranstaltungshinweis

Am 25.6. hält Julian Baller den Vortrag: “Tod und Spiele. Ludo-thanatologische Szenarien“. Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass der Westen seine suizidale Faszination für die Herausforderung des Schicksals über das Narrativ des Russischen Roulette externalisiert. Das angedeutete Motiv des Othering setzt sich in der berühmten Russischen Roulette Szene aus Michael Ciminos Film „Deer Hunter“ (1979) fort, wo Kämpfer der Vietcong gefangene amerikanische Soldaten zum Spielen zwingen. Der so gefolterte Protagonist Nick wird durch diese Ereignisse so traumatisiert, dass er schließlich anstatt nach Hause zurückzukehren in seinem Casino in Saigon als Russischer Roulette Spieler endet. Andere Filmszenen werfen Schlaglichter auf weitere Zusammenhänge, in denen das Russische Roulette als spielerische Praxis und als Metapher struktureller Wechselwirkungen von Spiel und Tod in Erscheinung tritt.

Gottesbeweis und Kasinokapitalismus

Im Film „El Topo“ (1970) des chilenischen Regisseurs Alejandro Jodorowsky wird Russisches Roulette von einer Gemeinschaft als eine Art Gottesbeweis in liturgischem Setting gespielt. In Jodorovskis Darstellung wird die Verbindung der Kontingenz mit der Theodizee-Frage sichtbar. Die theologische Kernfrage nach der Möglichkeit von Kontingenz ist aufs Engste mit dem Bereich der Spiele verbunden, was sich noch in Albert Einsteins berühmtem Diktum „Gott würfelt nicht“ und der kritischen Erwiderung Niels Bohrs, „man könnte Gott nicht vorscheiben, was er zu tun habe“, spiegelt.

Unter gänzlich anderen Bedingungen, in einer Art illegalen Wettarena, werden hohe Einsätze auf Leben und Tod der Spieler abgeschlossen, findet das Russische Roulette in Géla Babluanis Neo-Noir-Thriller „13 Tzameti“ (2005) statt. Das Russische Roulette erscheint hier als Metapher des Kasinokapitalismus und dessen amoralischen und suizidalen Tendenzen. Die metaphorische Dimension greift aber nicht nur auf systemischer Ebene, sondern verweist auch darauf, dass an Orten des Glücksspiels wie Wettbüros oder Kasinos Existenzen in großer Zahl verspielt werden.

Zahlreiche Studien belegen eine direkte Verbindung zwischen Glücksspiel und Suizid. So weist beispielsweise Las Vegas sowohl unter Bewohnern als auch unter Besuchern die höchste Suizidrate in den USA auf, die viermal höher ist als im US-Durchschnitt.

Russisches Roulette für Kinder

In Luc Bessons Film „Leon der Profi“ (1994) dagegen wird Russisches Roulette zum selbst gewählten Initiationsritual der Nachwuchskillerin Mathilda. In verschiedensten Gesellschaften entfalten Initiationsrituale den symbolischen Rahmen von Tod und Wiedergeburt, in dem die Initianden eine Phase des Übergangs zwischen ihrer alten und neuen Rolle im sozialen Gefüge durchlaufen, die oft mit einer tatsächlichen Lebensgefahr verbunden ist.

Die Faszinationskraft, die in der potenziell tödlichen, spielerischen Herausforderung des Schicksals liegt und sich nahtlos in die Diagnose einer zunehmend suizidfaszinierten Gegenwart einfügt, bringt nicht zuletzt skurrile Konsumartikel wie das Spiel „Kaba Kick“ des japanischen Spielzeugherstellers Takara Tomy hervor.

„Kaba Kick“ ist eine Art Russisches Roulette für Kinder, bei dem mit einer rosafarbenen Nilpferdpistole geschossen wird. Oder das Spiel „Super Russian Roulette“, welches vom Game-Entwickler Andrew Reitano für eine alte Version der Nintendo Konsole programmiert wurde. Die ludische Verdopplung löste in diesen Fällen zwar die konkret lebensbedrohliche Dimension auf; unter dem Gesichtspunkt der postfiktionalen Verfasstheit des Russischen Roulette bleibt eine suizidale Komponente dieser Spiele jedoch auch in diesen Spielversionen präsent.

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