Das Menschliche in uns anerkennen

Vor Kurzem ist der prominente US-Philosoph Stanley Cavell gestorben. Er untersuchte u.a. die Frage, wie wir uns in andere Menschen hineinversetzen können. Das geht nicht, ohne das Menschliche in uns anzuerkennen, wie der Philosoph Alexander Hippmann in einem Gastbeitrag schreibt.

Das „Problem des Fremdpsychischen“ – „Problem of Other Minds“ – in der Philosophie stellt Fragen wie: Geht im Anderen dasselbe vor wie in mir? Sind Empfindungen etwas Privates? Wie kann man über Empfindungen Anderer etwas wissen? Erfahre ich das über das, wie sie oder er sich benimmt, mir sagt, oder ihr Lachen oder auch ihr Schreien, und gibt es eigentlich auch eine Art von Seelenverwandtschaft, die sich in dieser Kommunikation ausdrückt oder zum Ausdruck kommt? Es gibt hier eine Summe von Fragen, Ansätzen und Lösungen in der Philosophie. Nach Stanley Cavell lässt sich eine Antwort über die Anerkennung des Menschlichen in uns finden.

Porträtfoto des Philosophen Alexander Hippmann

Alexander Hippmann

Über den Autor

Alexander Hippmann ist Habilitand im Fach Philosophie und Geschäftsführer des Weiterbildungsinstituts Wien. Publikation: Der Traum in Philosophie und Psychoanalyse. Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften 2009

Austin und Wittgenstein als Lehrer

Stanley Cavell wurde vom Philosophen John L. Austin in Harvard ausgebildet und war ein stark vom österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein beeinflusster Philosoph. Im Sinne der Beschäftigung mit dem Werk beider stellte die Auseinandersetzung mit der Sprache eine zentrale Rolle in seiner philosophischen Herangehensweise dar. Cavell griff dazu einerseits den von Austin entwickelten philosophischen Ansatz („Sprechakttheorie“) auf, der darauf aufmerksam macht, dass ein Sprechen, wie ein Danken oder Entschuldigen, durchaus einem Handeln entspricht. Andererseits stellte er sich hinter Ludwig Wittgensteins Aufforderung an den Philosophen, sich zu fragen, ob das Wort, das er beim philosophischen Arbeiten verwenden möchte, in der Alltagssprache tatsächlich auch so verwendet wird.

Von der Sprach- zur Filmphilosophie

Vor dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit dem Skeptizismus – dem Problem, dass einem philosophischen Zweifel an der Welt nicht einfach zu begegnen ist – setzt sich Stanley Cavell in seinem Hauptwerk Der Anspruch der Vernunft zunehmend mit der Frage auseinander, was und wie wir darüber wissen können, was sich gleichsam im „privaten Garten“ des Anderen abspielt - und somit wie sich ein Zugang zum Anderen finden lässt, ohne ihm auszuweichen.

Nach dieser Arbeit am Anfang seiner philosophischen Karriere wünschte er sich für die Philosophie ein größeres Interesse an jenen Problemen und Dingen zu entwickeln, an denen der gewöhnliche Mensch nicht vorbei kann. So wurde Cavell in seinem weitverzweigten Spätwerk auch zu einem der wichtigsten Autoren der Filmphilosophie. Im Rahmen dieses philosophischen Umgangs mit Filmen standen z. B. „Wiederverheiratungskomödien“ (beschrieben im Buch Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage). In diesen Filmkomödien geht es nicht darum, wie junge Paare über eine abenteuerliche Strecke zueinanderfinden, sondern darum wie Paare, die von Trennung bedroht sind, über eine schwierige Zeit hindurch, in der die Partner mit moralischen Fragen konfrontiert werden, wieder zueinander finden: „Sie heiraten sich gleichsam wieder.“ Diese Entwicklung im Paar wird in der Regel von einer Entwicklung im „Bewusstsein der Frau“ angestoßen, sodass wir es in diesen Komödien mehr mit einer Heldin als einem Helden zu tun bekommen.

Stanley Cavell  2006 bei einem Vortrag an der ETH Zürich

ETH Zürich

Stanley Cavell, gestorben am 19. Juni 2018, war emeritierter Walter M. Cabot Professor für Ästhetik und allgemeine Werttheorie an der Harvard University.

Stanley Cavell war in der Lehre stark engagiert und trug nach der Philosophin Martha C. Nussbaum auf diese Weise dazu bei, seine Kolleginnen und Kollegen in der Philosophie darauf aufmerksam zu machen, dass sich an allen Ecken und Enden Philosophie finden lässt (siehe Nachruf in der „New York Times“).

„Das Problem des Fremdpsychischen“

Zu Beginn seiner philosophischen Entwicklung steht jedoch sein Hauptwerk Der Anspruch der Vernunft, in dem der Blick auf die analytische Philosophie gerichtet ist. Cavell konzentriert sich in ihm wesentlich auf Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, beleuchtet sie von unterschiedlichen Blickwinkeln und untersucht auch Wittgensteins rhetorische Frage: „Inwiefern sind nun meine Empfindungen privat? – Nun, nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe; der Andere kann es nur vermuten.“

Cavell greift dabei auf Wittgensteins eigene Antwort zurück, der die Bemerkung, was wir über die Empfindungen Anderer wissen können, eigentlich als „falsch und unsinnig“ ansieht, und meint, dass wir hier gar nicht von einem Wissen über die Empfindungen Anderer sprechen können, denn wenn Einer von uns vor Schmerzen schreien würde, würden uns durchaus Andere oft sofort zu Hilfe kommen - Wissen hin oder her.

Cavell greift diese kritischen Überlegungen zu einem Teil auf und betont, dass es im Umgang mit dem Anderen nicht um ein Wissen, sondern vielmehr um ein „Erkennen und ein Anerkennen des Anderen - der „fremden Psyche“ - gehen würde. Was, fragt Cavell sich jedoch auch, passiert in Fällen wie beispielsweise der Sklaverei? Handelt es sich dabei um eine Art von „Seelenblindheit“ gegenüber Anderen?

Stanley Cavell  2006 bei einem Vortrag an der ETH Zürich

ETH Zürich

Stanley Cavell 2006 bei einem Vortrag an der ETH Zürich

Die Anerkennung des Menschlichen in uns

Um etwas wie „Seelenblindheit“ gegenüber Anderen entgegenzutreten, steht nach Cavell die „Anerkennung des Menschlichen in uns“ im Zentrum. Dieses Anerkennen des Menschlichen in uns ist nach Cavell einerseits mit Blick auf uns selbst eigentlich nicht mehr als eine Vermutung und anderseits ein gegenseitiger Prozess des Anerkennens, wobei es vor allem wichtig wäre, dass sich der Eine durchaus auch zuerst als Anderer – selbst als die „fremde Psyche“ – sehen kann. Dazu gehört für ihn schließlich auch noch (seinen Lehrer Austin aufgreifend), dass der Mensch seine Beschränktheit in der Einlösung seiner Wissensansprüche akzeptiert. Auf diesem Weg würde sich der Mensch als Mensch anerkennen – und somit einen Anspruch der Vernunft erfüllen.

Auch wenn Cavell inmitten all der Zweifel über ein Wissen, einen Zugang oder ein Verhältnis zum Anderen auch ins Auge fasst, dass der Mensch zu nicht mehr fähig sein sollte, als wie einer etwas unklaren „empathischen Projektion“ auf den Anderen und nicht zu Mitgefühl und Mitleid, so geht es ihm um eine Lösung, die im Unterschied zu einer „Vermeidung des Menschlichen in uns“ das Menschsein annimmt.

Im philosophischen Dialog mit Wittgenstein, mit sich selbst und der Literatur läuft die Antwort auf die eingangs gestellten Fragen damit im Grunde auf den Wunsch hinaus, den Cavell so beschreibt: „Ein Mensch könnte, wenn er mit mir konfrontiert ist, unmöglich nicht wissen, dass ich ein Mensch bin.“

Literatur:

  • Cavell, Stanley (1979). Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006
  • Cavell, Stanley (1981). Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage. Harvard University Press
  • Wittgenstein, Ludwig (1953 [1945-49]). Philosophische Untersuchungen. In Ludwig Wittgenstein. Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 225-618

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