Stilkunde mit Big Data

Big Data macht auch vor Kunstwerken nicht halt - und liefert Stilkunde in quantitativ messbaren Bildeigenschaften. Forscher haben die räumlichen Daten der Bildpunkte in 140.000 Bildern ausgewertet: Mit der Kunstgeschichte stimmen ihre Ergebnisse weitgehend überein.

In ihrer im Fachjournal „PNAS“ veröffentlichten Arbeit berufen sich die Komplexitätsforscher, die zum Teil am Complexity Science Hub (CSH) Wien tätig sind, unter anderem auf die Theorien des österreichischen Kunsthistorikers Alois Riegl sowie seines Schweizer Kollegen Heinrich Wölfflin, beide wichtige Vertreter des kunsthistorischen Formalismus.

Beide versuchten, eine möglichst objektive Stilkunde anhand bestimmter Begriffspaare zu ermöglichen, in Riegls Fall etwa „haptisch“ versus „optisch“, in Wölfflins Diktion etwa „linear“ versus „malerisch“. Beide Begriffspaare beschreiben, inwiefern die Bildkomposition auf klar abgegrenzte Formen setzt oder wie sehr die Bildinhalte „verschwimmen“.

„Wir haben uns auf diese Paradigmen konzentriert, die auch die Evolution der Kunst behandeln“, so Matjaz Perc von der Universität Maribor sowie dem CSH Wien, gegenüber der APA. „Wölfflin glaubte an eine zyklische Entwicklung zwischen linearen und malerischen Formen der Darstellung - Wechsel, die von Umständen außerhalb der Kunst befördert werden.“ Ein Hin und Her zwischen deutlichen, klar begrenzten und stark geordneten Darstellungsformen lässt sich aus der Epochengeschichte tatsächlich ablesen, wenn auch nicht in der Deutlichkeit, die die Formalisten postulierten.

Zwei wichtige Wechsel

Für die Ableitung in messbare Bildpunkte, etwa eines Gemäldes, nutzte das Team die physikalischen Kategorien „Entropie“ und „Komplexität“, die sich jeweils aus der räumlichen Anordnung der Bildpunkte in Bezug auf Ordnung oder Zufälligkeit berechnen. Sind die Bildpunkte immer in derselben Ordnung gereiht, ergeben sich auf der Entropie-Komplexitäts-Skala geringe Werte (passend zu „linearer“ oder „haptischer“ Darstellung), je zufälliger sie aufscheinen, desto höher wird dieses Maß („malerisch“ oder „optisch“). Aus der Online-Kunstdatenbank Wikiart.org wurden fast 140.000 Kunstwerke aus mehreren Jahrhunderten bis heute analysiert - und dann auf 92 Stilepochen mit jeweils mehr als 100 Vertretern eingeschränkt.

„Unsere Resultate bestätigen, dass die Kunstgeschichte zwei wichtige Wechsel durchgemacht hat“, so Perc. Mit dem Einsetzen der Moderne rund um die Jahrhundertwende 1900 gibt es einen klaren Wechsel von „linear“ nach „malerisch“ zwischen der romantischen und neoklassizistischen Zeit und modernen Strömungen. Noch dramatischer allerdings stellt sich in den Datenanalysen die umgekehrte Veränderung von der modernen zur postmodernen, zeitgenössischen Malerei dar: Etwa ab den 1960ern schwenkt die Verteilung der Bildpunkte von der komplexen, „verschwommenen“ und überlagerten Anordnung der Moderne auf eine umso klarer geordnete Struktur um - was freilich mit der Stilgeschichte und dem Beginn der Pop Art durchaus konform geht. Beim Versuch, Bilder „blind“, nur aufgrund der Werte der Entropie-Komplexitäts-Skala, einer kunstgeschichtlichen Epoche zuordnen zu lassen, ergab sich eine Trefferquote von 18 Prozent - kein allzu hoher, dennoch kein zufälliger Wert.

Automatische Stilerkennung

„Wir versuchen nicht, Kunstwerke in ihrer Qualität oder Bedeutung zu behandeln“, so Perc, der selbst aus der Physik kommt. „Wir sind glücklich mit einer rein deskriptiven Aufgabe. Aber wenn wir Kunst als ein komplexes System betrachten, in dem viele Einzelteile auf verschiedenen räumlichen Skalen miteinander agieren, dann können wir uns zumindest eine Vorstellung davon verschaffen, in welcher Beziehung einfache Maße zu den komplexeren ästhetischen Vorgängen stehen.“

Das Betätigungsfeld für Komplexitätsforscher ist im Bereich der Künste jedenfalls groß - in der Bildenden Kunst gab es ähnliche Analysen bisher etwa für Farbwerte, oder auch für Fraktale und ihr Vorkommen im Werk bestimmter Künstler. Nicht zuletzt werden solche Techniken eingesetzt, um die Echtheit von Kunstwerken zu bestimmen. „Wir planen, unseren Zugang auch mit anderen quantifizierbaren Bildmaßen zu kombinieren, um die automatische Stilerkennung zu verbessern“, erklärt Perc. „Eine großangelegte Untersuchung von Farbprofilen mit einer historischen Perspektive wäre auch interessant - ebenso sind die Methoden aber natürlich auf bestimmte Epochen, einzelne Künstler oder sogar einzelne Kunstwerke anwendbar.“

science.ORF.at/APA

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