Eine Million Kulturentwickler
Im April 2017 startete die Internetplattform „Reddit“ die Aktion „Place“. Drei Tage lang konnte die Community dabei eine weiße Fläche von 1.000 mal 1.000 Pixeln befüllen, also eine digitale Leinwand. Die einzige Anleitung von Reddit dazu: „Individuell könnt ihr etwas schaffen. Gemeinsam könnt ihr mehr schaffen.”
Mehr als eine Million User beteiligten sich an der Aktion. Jeder Nutzer konnte alle fünf Minuten ein Pixel setzen, bestehende Bildpunkte konnten auch wieder überschrieben werden. Um sinnvolle Bilder zu schaffen, mussten User daher zusammen arbeiten, etwa indem sie sich in Gruppen, sogenannten Sub-Reddits, absprachen. Dabei entstanden verschiedene „Kunstwerke“, teilweise simple Nationalflaggen oder Farbflächen, aber auch Logos von Sportteams, Comicfiguren und eine Mona Lisa, zu sehen etwa in diesem Video.
Oberer Teil des „Kunstwerks“
Dass man dieses „Kunstwerk“ auch wissenschaftlich analysieren kann, zeigen Thomas Müller und James Winters vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in einer neuen Studie. Sie sind zufällig auf das Video von „Place“ gestoßen und sahen in der digitalen Leinwand einen Mikrokosmos für Kulturevolution. Also nutzten sie diese einmalige Chance, die Dynamik von über einer Million Usern wissenschaftlich zu beobachten.
„Was man hier sehen konnte, war die Evolution von einer leeren Leinwand zu einem riesigen Kunstwerk. Die einzelnen Kunstwerke haben sich über die Zeit verändert, und Evolution ist schlichtweg Veränderung über Zeit“, so Studienautor Thomas Müller gegenüber science.ORF.at.
Konkurrenz und Struktur
Wie die Forscher in der Studie schreiben, wirft ein System mit begrenzten Ressourcen immer das Problem von Konkurrenz und Koexistenz auf – und die Frage, welche Merkmale sich durchsetzen. Die bisherige Forschung würde zeigen, dass bei Kulturmerkmalen eine gewisse Struktur vorhanden ist, so Müller. Etwa bei Sprachen, die durch Grammatik und Syntax geordnet sind.
Studie
„Compression in cultural evolution: Homogeneity and structure in the emergence and evolution of a large-scale online collaborative art project“, PLOS ONE, 5.9.2018
Im Fall der Leinwand sind die Farbpixel die kulturellen Merkmale. Am Anfang wurden die Pixel noch ungeordnet und chaotisch platziert. Als der Platz auf der Leinwand weniger und damit der Wettbewerb größer wurde, entstanden aber Konflikte zwischen den verschiedenen Künstlergruppen und es zeichnete sich mehr Struktur ab. „Es ist also –wenn man evolutionär denkt - adaptiv (ein Zeichen von Anpassung), dass man Kunstwerke erstellt, die leicht zu erstellen und wiederherzustellen sind, weil man sie ja auch gegen andere verteidigen muss. Der Wettbewerb fördert also eher strukturierte Kunstwerke“, so Müller.
Methodisch sind die Forscher so vorgegangen, dass sie für die gesamten drei Tage Laufzeit des Kunstprojektes pro Sekunde ein Bild der Leinwand erstellt haben. Dadurch sind ungefähr 250.000 Bildern entstanden, deren Strukturen sie dann statistisch ausgewertet und modelliert haben.
Kooperation und Integration
„Betrachtet man die Leinwand als kleines Ökosystem, dann wäre die Analogie, dass erfolgreiche Gruppen nicht eliminiert werden, sondern ihre Nische finden und verteidigen. Mit der Zeit nimmt der verfügbare Platz auf der Leinwand ab, der Druck auf einzelne Kunstwerke wächst, und dies wird oft gelöst, indem die Kunstwerke besser strukturiert und in die benachbarten integriert werden“, so Müller gegenüber science.ORF.at
Ein Beispiel dafür ist etwa der Konflikt zwischen Zeichnungen der deutschen und der französischen Flagge, die sich auf der Leinwand in die Quere kamen. Anstatt die jeweils andere Zeichnung immer wieder zu zerstören, bildeten die Künstler schließlich eine Allianz und konstruierten auf dem umstrittenen Gebiet eine EU-Flagge.
Auf „Place“ habe es auch Gruppen gegeben, die alles blau färben oder alles löschen wollten, diese hätten sich aber nicht durchgesetzt. „Interessant ist vor allem, dass die Entwicklung nicht dahingeht, dass alles homogen wird, sondern dass die Variation erhalten bleibt und dass sich die ganz vielen kleinen Kunstwerke integrieren und verbinden. Das scheint die evolutionäre Lösung zu sein“, so Müller.
Identifikation und Repräsentation
Aus welchen Teilen der Welt die Reddit-Künstler kamen, haben die Forscher nicht ausgewertet. Auffallend sind aber die zahlreichen Nationalflaggen auf der Leinwand. Für Müller könnte das daran liegen, dass das Kunstwerk für Millionen User sichtbar war und die Leute daher etwas schaffen wollten, mit dem sie sich identifizieren. Darum seien etwa viele Popkultur-Symbole zu sehen, aber eben auch Nationalflaggen.
Er weist auch darauf hin, dass es bereits zahlreiche nationale Sub-Reddits gab. Da sei es "naheliegend, dass sich diese nationalen Gruppen dann zusammenschließen und eine Art Repräsentation schaffen wollten, und eine Flagge ist dann das einfachste, was man zeichnen kann“. Teilweise wurde das auch mit anderen Dingen weitergeführt, die man mit der eigenen Kultur verbindet. Die deutsche Flagge zum Beispiel zierten am Ende auch ein Glas Bier und eine Bratwurst. „Es ging auf der Leinwand sicher auch um die Repräsentation von bestehenden Reddit-Gruppen“, so Müller.
Julia Geistberger, science.ORF.at