Für eine Kritik der digitalen Vernunft

Computer und Internet bestimmen zunehmend den Alltag. Hinter den bunten Nutzeroberflächen treiben Algorithmen ihr undurchschaubares Spiel. Deshalb ist es Zeit für eine „Kritik der digitalen Vernunft“, wie sie die Philosophin Sybille Krämer skizziert.

Wir verbinden das Digitale mit Computernutzung und Internet, es erscheint uns so innovativ wie von unaufhaltsamer Wucht: Markenzeichen einer Epoche, welche mit den bedächtigeren Gepflogenheiten der Buchdruckkultur radikal bricht. Doch die Anbindung des Digitalen an Computer und elektronische Vernetzung greift zu kurz. Denn was „digital“ bedeutet, führt zurück zu den Wurzeln unserer wohlvertrauten alphabetischen Literalität.

Sybille Krämer

IFK

Über die Autorin

Sybille Krämer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin und derzeit Stadt Wien/IFK_Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz in Wien.

Wir müssen das Digitale prozessual, also dynamisch verstehen. Zu „digitalisieren“ heißt etwas, das kontinuierlich und (relativ) „ungeteilt“ ist, in Einheiten aufzuspalten, so dass auf diese Teile unabhängig zugegriffen und mit ihnen kombinatorisch operiert werden kann. Allerdings muss es sich bei der Zerlegung um eine Arbeit mit Zeichen handeln: Nicht schon das Zersägen eines Baumstammes in Bretter, wohl aber die Zerlegung eines gesprochenen Satzes in eine Kette von Buchstaben bildet eine – sogar überaus entscheidende – Form des Digitalisierens.

Alphabet – Frühform der Digitalisierung

Als im antiken Griechenland die semitische Buchstabenschrift, die nur Konsonanten aufzeichnete, um Buchstaben für Vokale ergänzt wurde, eröffnete sich die Möglichkeit, den zeitlichen Strom des Sprechens aufzuschreiben. Seitdem wird das Alphabetische mit Sprachaufzeichnung verbunden. Vergessen wird dabei allerdings, dass das griechische Alphabet nicht nur Sprachlaute, sondern auch musikalische Töne und Zahlen notierte.

Tatsächlich ist das Alphabet aufs engste liiert mit Zahlenschriften, insbesondere mit jenem dezimalen Positionssystem, das von indischen Mathematikern erfunden und von arabischen Gelehrten im späten Mittelalter nach Europa importiert wurde. Allzu gerne vergessen Geisteswissenschaftler, wie eng der Bund zwischen Buchstaben und Zahlen geknüpft ist und wie sehr europäische Formen der Literalität sich in einem alphanumerischen Textraum bewegen.

Es ist keineswegs so, dass die Sciences genuin in der Zahlenschrift, die Humanities in Buchstabenschriften ihre idealtypische Darstellungsform finden. Vielmehr operiert jede Wissenschaft mit den Darstellungsmitteln von Buchstaben und Ziffern: Auch schriftliche Rechnungen, formale Deduktionen, chemische Tabellen und Computerprogramme sind Textvorkommnisse, wie umgekehrt keine Geisteswissenschaft auskommt ohne die Bezugnahme auf Zahlen – erinnert sei nur an numerische Werkverzeichnisse in den Künsten, an zitierfähige Seitennummerierungen der Bücher, an die Datenangaben historischer Ereignisse.

Datenbankprinzip schon in der Buchdruckkultur

So dringt schon früh das „Datenbankprinzip“ ein in die Praktiken gelehrter Buchkultur: Wörterbücher, Handbücher und Enzyklopädien brechen mit dem Prinzip der Narration, bei der Anfang und Ende eines Textes einen fortschreitenden Zusammenhang bilden; stattdessen erlaubt das alphabetische Anordnungsprinzip einen unabhängigen Zugriff auf die je einzelnen Stichworte.

Ö1 Sendungshinweis:

Das Ende der Schriftkultur?, Punkt Eins vom 5.10. mit Sybille Krämer

Doch worauf es uns ankommt, ist nicht die Frühformen des Digitalen in der alphabetischen Literalität aufzuspüren, vielmehr auf eine Ambivalenz aufmerksam zu machen. Diese kristallisiert sich aus im Phänomen des Algorithmus. Mithilfe von Algorithmen können komplexe Prozesse als einfache, sukzessiv abzuarbeitende Teilschritte vollzogen werden. Der interessante Punkt nun ist, was geschieht, wenn Algorithmen für geistige Tätigkeiten genutzt werden – die Einführung des schriftlichen Rechnens, welche elementare Arithmetik lehr- und lernbar machte, ist dafür beispielhaft.

Operieren mit Zeichen

Das Wort Algorithmus leitet sich ab vom Eigennamen des persischen Gelehrten Al Chwarizmi (ca. 785-850), der das schriftliche Rechnen in Europa einführte; der Philosoph G.W. Leibniz (1646 -1716) gebraucht das Wort dann erstmals im Sinne von „Rechenregel“, wobei die Pointe seiner Einsicht darin bestand, dass Rechnen nicht als ein Operieren mit Zahlen, vielmehr mit Zeichen zu verstehen ist, und zwar so, dass die Rechenregeln keinen Bezug nehmen auf die referenzielle, also gegenständliche Interpretation der Zeichen.

Leibniz-Skizze einer Rechenmaschine

G. W. Leibniz-Bibliothek Hannover

Leibniz-Skizze einer Rechenmaschine

Genau diese Entleerung vom Zeichengehalt definiert eine formale Prozedur und garantiert deren prinzipielle Ausführbarkeit durch eine Maschine. So ist kein Wissen, was das Zeichen „0“ bedeutet – ob die Null z.B. überhaupt eine Zahl ist – vorausgesetzt, um mit der „0“ regelkonform, also richtig rechnen zu können. Das Wissen, wie etwas ausgeführt wird, löst sich ab vom Wissen, warum dieses Verfahren überhaupt „aufgeht“ und funktioniert; so etwas bildet ein Grundprinzip allen Technikgebrauches. Algorithmen importieren dieses technische Prinzip in die intellektuelle Arbeit: Wo dies möglich ist, werden Interpretation und Verständnis abgespalten vom korrekten Vollzug einer Zeichenoperation. Die Formalisierung wird zu einer grundständigen Denkpraxis – im Alltag (z.B. Rechnen) ebenso wie in den Wissenschaften.

Ein Paradoxon: Erkenntnis ohne Nachdenken

Wir stoßen hier auf ein merkwürdiges mit der Entwicklung unseres Geistes verbundenes Paradoxon: Die Evolution des menschlichen Geistes zeigt sich just darin, dass wir in vielen Domänen kognitive Tätigkeiten auf eine Weise organisieren, die – ein Stück weit – auf dem Ausschalten von Bewusstsein, Verständnis und Interpretation beruhen. Eine „intendierte Sinnentleerung“ wird zum Instrument von Erkenntnis. Der Mathematiker Alfred North Whitehead (1861-1947) drückt das so aus: „Die Zivilisation schreitet voran, indem sie die Anzahl der wichtigen Operationen ausdehnt, die man ausführen kann, ohne über sie nachzudenken.“ (Einführung in die Mathematik 1911, 35f).

Veranstaltungshinweis

Am 8.10. hält Sybille Krämer den Vortrag: “Über Ambivalenzen des Digitalen und die Notwendigkeit einer ‚digitalen Aufklärung‘“. Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Die mit der Buchdruckkultur zu einem Leitmedium aufgestiegene, bebilderte und beschriftete Fläche ging mit dem Versprechen einher, das notierte Wissen dem Geheimnis zu entziehen: Alles, worauf es ankommt, ist auf der Fläche sichtbar und lesbar. Doch wenn im Zuge der Digitalisierung aus der Schreib- und Lesefläche das vernetzte Interface wird, entsteht ein neuer, undurchdringlicher, unüberschaubarer Tiefenraum hinter der sichtbaren Oberfläche, in dem Algorithmen, Protokolle und Geräte miteinander interagieren, ohne dass dies von den Nutzerinnen noch erkennbar, geschweige denn kontrollierbare ist.

Rhizomartig wuchert auf der Rückseite der smarten Nutzerfreundlichkeit des Bildschirms die Region eines wiedererstarkenden „Geheimnisses“, eines prinzipiellen Nicht-Wissens. Beispielsweise entwickelt jede Software eine „virtuelle Maschine“, die denjenigen, die mit der Software arbeiten, verborgen bleibt. Und die mannigfaltigen Datenspuren, die NutzerInnen im Netz hinterlassen und die von Algorithmen zur Profilierung von Personen und Vorhersage von Verhaltensweisen eingesetzt werden, bleiben dem Bewusstsein ihrer Urheber gewöhnlich entzogen.

Digitale Aufklärung als „Kritik der digitalen Vernunft“

Das mit der alphanumerischen Literalität verbundene aufklärerische Ethos und Transparenzversprechen verkehrt sich: Im Netz unterwegs zu sein heißt zumeist, die eigenen Datenspuren weder kennen noch beherrschen zu können. Vernetzte Digitalität zeigt ihren Januskopf: Sie ist nicht nur mobilitätsfördernd (Schienennetz, Stromnetz!), sondern kann zugleich sich als Falle (Spinnennetz, Fischernetz) entpuppen. Brauchen wir eine neue Form der Aufklärung, eine „digitale Aufklärung“? Doch was bedeutet „digitale Mündigkeit“?

Es wäre illusionär zu fordern, dass Nutzer zu Spezialisten oder gar Hackern mutieren, die das verborgene Geschehen hinter dem Screen aufdecken und transparent machen können. Vielmehr geht es im ersten Schritt um eine „Kritik der digitalen Vernunft“, welche die Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten des Digitalen zutage fördert. Das allerdings geht nicht ohne begriffliche Vergewisserung über grundlegende Konzepte wie „Daten“, „Algorithmen“, „Digitalisierung“. Eine „Kritik der digitalen Vernunft“ bedeutet sowohl die Kritik an, wie die Kritik durch die digitale Vernunft!

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