Millionenrad statt Expertenrat

Das Wissenschaftssystem ist stark gewachsen ist. Die Qualitätssicherung durch Experten, das Peer Review-System, kommt zunehmend unter Druck. Eine Losentscheidung bei der Mittelvergabe stehe aber nicht vor der Tür, so das Fazit einer Tagung zum Thema.

Bei einer am Freitag endenden Tagung in Wien diskutierten Experten auch die Idee der Losentscheidung bei der Ressourcenvergabe. „Millionenrad statt Expertenrat“ stehe aber nicht vor der Tür.

Der Blick zurück illustriert das Dilemma: Aktuell arbeiten rund doppelt so viele Menschen im wissenschaftlichen Bereich wie vor rund 30 Jahren, sagt der Vorsitzende des Wissenschaftsrates (ÖWR), Antonio Loprieno. Dementsprechend ist auch die Anzahl an Anträgen für Forschungsprojekte, an Publikationen oder jener an Leuten angestiegen, die sich um eine Karriere im Wissenschaftssystem bemühen.

Dieser „erhöhte Druck“ bringe auch das auf Basis von Gutachten von Fachkollegen basierende Peer Review-System an seine Grenzen, heißt es bei der vom österreichischen sowie dem deutschen Wissenschaftsrat veranstalteten Tagung mit dem Titel „Qualitätsstandard oder leeres Ritual. Begutachtung in der Diskussion“. „Das derzeitige System ist nicht nachhaltig“, man sollte schon angesichts des starken Wachstums über seine Zukunft grundlegend nachdenken, urteilt Loprieno.

Ausufernder Umfang

Neben dem ausufernden Umfang - laut Schätzungen werden im deutschen Sprachraum pro Jahr immerhin rund 50.000 Gutachten erstellt - habe das momentane System auch inhaltliche Limitierungen: So wird etwa oft ins Treffen geführt, dass die Begutachtung eher dazu führt, wenig risikoreiche Vorhaben zu fördern oder Personen Professuren zu geben, die nicht unbedingt durch unkonventionelles Denken bestechen. Eine gewisse „Mainstream-Falle“ sieht auch Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP). Außerdem sollte kritisch hinterfragt werden, ob es nicht Bereiche und Entscheidungen gibt, in denen auf Gutachten und Evaluationen großteils verzichtet werden könnte, weil sie wenig Erkenntnisgewinn versprechen oder nur zur Legitimierung von gefällten Urteilen herangezogen werden, sagt der Minister.

Das Peer Review-Verfahren sei trotzdem immer noch das beste System, das es derzeit gebe, so die Vorsitzende des deutschen Wissenschaftsrates, Martina Brockmeier. Es müsse aber „lernfähig“ bleiben und brauche Weiterentwicklung. „Heiß diskutiert“ werde momentan die Idee, beispielsweise Vergabegremien durch Zufallsentscheidungen in der letzten Instanz zu entlasten, sagt Brockmeier.

Glücksrad keine Lösung

Eine Art Forschungsförderungs-Glücksrad, wo jeder Antrag unabhängig von der Qualität gleiche Chancen hat, stehe aber nicht zur Diskussion, sind sich die Experten einig. Bevor das Los entscheidet, müssten immer noch Expertengutachten zu dem Schluss kommen, dass nur durchwegs exzellent eingeschätzte Vorhaben in die letztlich entscheidende Ziehung kommen.

Die deutsche VolkswagenStiftung hat sich kürzlich dazu entschlossen, ein derartiges Pilotprojekt zu starten und auch in der Schweiz gibt es solche Überlegungen. Henrike Hartmann von der VolkswagenStiftung sieht darin jedenfalls eine legitime Vorgehensweise - auch weil eine Losentscheidung vor Augen führt, dass das System in Schieflage gerät. Die ersten Ansätze zur Umsetzung sollten daher als „Experiment“ gesehen werden, dessen Auswirkungen wissenschaftlich analysiert werden müssten. Auch Brockmeier betont, dass es hier noch an Erfahrungswerten mangle.

Schicksalhafte Förderung

Ein gewisses Abhandenkommen von Transparenz befürchtete hingegen Irene Dingel vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Auch eine Entscheidung rein auf Basis von Gutachten sei zwar nicht ganz objektiv, man könne letztendlich aber immer noch eine Begründung für eine Ablehnung geben. Das Los liefere diese jedoch nicht. Damit werde die „Förderung im Einzelfall noch mehr zum Schicksal“. Außerdem befürchtet die Wissenschaftlerin, dass hier in Zeiten der Hochkonjunktur von Glücksspiel und Quizshows ein falsches Signal in die Öffentlichkeit ausgesendet wird.

Die interessierte Öffentlichkeit auch ein Stück weit in derartige Entscheidungen einzubeziehen und Peer Review-Verfahren öffentlicher ablaufen zu lassen, wurde ebenfalls als Möglichkeit zur Reformierung des Systems diskutiert. Außerdem erhoffen sich manche Experten Verbesserungen durch stärkere Beteiligung von Jungforschern oder die Erhöhung der Vergütungen für gutachterische Tätigkeiten.

science.ORF.at/APA

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