Warum Männer öfter autistisch sind

Ein versierter Nerd, aber ungeschickt im sozialen Umgang - hat dieses Klischee etwas mit Autismus zu tun? Und warum denken bei dieser Beschreibung fast alle an einen Mann? Eine Studie an 670.000 Menschen gibt Antworten.

Über den norwegischen Schachweltmeister Magnus Carlsen wurde immer wieder gemunkelt, er, der „Mozart des Schachs“, wie er von den Medien gerne genannt wird, könnte womöglich Autist sein. Irgendwann wagte ein Journalist im Interview die direkte Frage: „Leiden Sie unter Autismus?“ Und Carlsen antwortete: „Nun, ist das nicht offensichtlich?“

Die Antwort war ein Scherz. Wer Carlsens Interviews kennt, weiß, dass er journalistische Plattitüden gerne aufs Korn nimmt und sich der Beantwortung mehr oder minder blöder Fragen ironisch entzieht. Kürzlich etwa bei der Pressekonferenz vor dem derzeit laufenden WM-Duell mit dem US-Amerikaner Fabiano Caruana: „Haben Sie weibliche Unterstützung für den Wettkampf?“ „Frauen hassen mich, ich stoße sie ab.“

Da war es wieder, das Spiel mit dem Klischee vom gehemmten Schachnerd, hochtalentiert, aber sozial unterentwickelt. Im Fall von Carlsen lässt sich wohl relativ gefahrlos behaupten, dass von sozialer Hemmung nicht die Rede sein kann. Gleichwohl kann man die Frage stellen: Woher stammt eigentlich diese Schablone?

„Vermännlichtes“ Gehirn

Forscher um Simon Baron-Cohen von der Cambridge University (übrigens der Cousin von Sacha Baron-Cohen) haben dieser Tage Untersuchungsdaten von 670.000 Probanden, darunter 37.000 Autisten, vorgestellt - und bestätigen nun mit statistischer Eindeutigkeit, was die Psychologie schon länger vermutete: Autismus ist unter Männern stärker verbreitet als unter Frauen.

Und zwar nicht nur die Diagnose gemäß psychiatrischem Lehrbuch, sondern auch die harmlose Vorstufe dazu. Gemeint ist folgende Merkmalskombination: überdurchschnittliche Fähigkeiten im systematischen Denken gepaart mit unterdurchschnittlichen Fähigkeiten in Sachen Empathie. Diese Neigung tritt unter Männern tatsächlich häufiger auf, besonders unter solchen, die in Technik und Naturwissenschaften tätig sind, wie Baron-Cohen und sein Team im Fachblatt „PNAS“ schreiben.

Das könnte der Ursprung so mancher Stereotypen rund um die Figur des männlichen Nerds sein, was laut Baron-Cohen auch dazu führt, dass echter Autismus „gerade bei Frauen oft übersehen wird.“ Falsch sei jedenfalls die Annahme, dass es Autisten (Frauen wie Männern) an Mitgefühl mangle. Sie hätten zwar Schwierigkeiten, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen. Das hindere sie freilich keineswegs daran, sich um ihre Mitmenschen zu sorgen.

Tests für britische TV-Doku

Was die Ursachen betrifft, sehen sich die Forscher einem schwer aufzudröselnden Ursachengeflecht gegenüber. Zweifelsfrei seien die Gene daran beteiligt, ebenso die Hormone, speziell jene, die im Mutterbauch die Gehirnentwicklung steuern. Und nicht zuletzt auch die Umwelt, in Form von Lebenserfahrungen. „Wir müssen erst herausfinden, wie diese Faktoren mit den Geschlechterunterschieden zusammenhängen und wie sie einander beeinflussen“, sagt Studienautor Varun Carrier.

Auf die stolze Zahl von 670.000 Probanden kamen die Forscher übrigens dank einer Kooperation mit britischen Fernsehsender Channel 4: In der TV-Dokumentation „Are you autistic?“, ausgestrahlt im März dieses Jahres, räumen die Wissenschaftler unter anderem mit der Ansicht auf, dass Autismus eine Krankheit sei. „Die Gehirne von Autisten arbeiten weder fehlerhaft noch sind sie beschädigt, sie funktionieren bloß ein bisschen anders, und zwar von Geburt an“, sagt die australische Psychologin Liz Pellicano.

Was dieses Andere ist, lässt sich beispielsweise mit Hilfe des „strange stories test“, entwickelt von der britischen Autismus-Forscherin Francesca Happé, messen. Autisten haben oft Schwierigkeiten, Zwischentöne in ganz alltäglichen Gesprächen zu erkennen. Gefälligkeitslügen, Ironie und scherzhafte Verdrehungen sind ihnen fremd.

Auf Magnus Carlsen trifft das wohl nicht zu. Noch eine Kostprobe von seiner letzten Pressekonferenz: „Herr Carlsen, bei der letzten Schach-WM hatten Sie ihre Emotionen nicht im Griff - arbeiten Sie an dieser Schwäche?“ „Ihre Frage ärgert mich!“

Robert Czepel, science.ORF.at

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