Edgar Zilsels Kritik der „Geniereligion“

Wer „Genies“ verehrt, verachtet die Masse: Diese Kritik an der damals grassierenden „Geniereligion“ übte Edgar Zilsel vor 100 Jahren. Der Politikwissenschaftler Günther Sandner zeichnet diese Kritik zum Jubiläum in einem Gastbeitrag nach.

Im Jahr 1918 erschien Edgar Zilsels Buch „Die Geniereligion“ mit dem etwas sperrigen Untertitel: „Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal mit einer historischen Begründung“. Die Publikation war zweiteilig geplant: Dem ersten, kritischen Teil sollte ein zweiter, historischer folgen, dessen Erscheinen im Buch bereits angezeigt wurde. Tatsächlich sollten aber noch acht Jahre vergehen, ehe Zilsel mit einer neuen Monographie zu diesem Thema an die Öffentlichkeit trat.

Porträtfoto von Günther Sandner

IFK

Über den Autor

Günther Sandner leitet als Senior Research Fellow am Institut Wiener Kreis das FWF-Projekt „Isotype. Entstehung, Entwicklung und Erbe“ und ist Lehrbeauftragter an der Universität Wien.

Die Ursprünge des Genieglaubens reichten bis in die Antike zurück, doch eine auf spezifischen Dogmen basierende Geniereligion entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert. Zilsel analysierte in seinem Buch zunächst diese Dogmatik, zu der er bestimmte Nach- und Mitweltvorstellungen zählte, aber auch die Vorstellung einer „Brüderschaft der Genies“ oder den Begriff der Tiefe.

All diese Dogmen – Genies werden von der Mitwelt verachtet und erst von der Nachwelt erkannt, sie seien durch gedankliche Tiefe ausgezeichnet und brüderlich miteinander verbunden – hielten einer empirischen Prüfung freilich nicht Stand. In teils sarkastischem Tonfall zerlegt Zilsel die Bestandteile dieser „Religion“, indem er etwa auf Erfolg und Anerkennung vieler so genannter Genies durch ihre Mitwelt verwies oder mit dem Hinweis auf erbitterte Kontroversen zwischen „genialen“ Künstlern und Denkern deren angebliche Brüderschaft widerlegte.

„Gefahr für unser Zeitalter“

Zilsel untersuchte aber auch gesellschaftliche Probleme, die mit dem Geniekult verbunden waren. Dieser führe immer weg von der Sache und hin zur Persönlichkeit. Genieverehrung aber, so meinte er, resultiere letztlich in Massenverachtung und Intoleranz. Das Genie verlangte Gefolgschaft, aber irgendeine Sache vertrat es in der Regel nicht.

Genies bildeten daher eine Gruppe, so Zilsel, die zugleich aus Parteiführern und aus Parteilosen besteht. Er warnte eindringlich davor, die Dogmen der Geniereligion mit politischen und sozialen Fragen zu verquicken. Denn Persönlichkeitskult und Massenverachtung wären für jede Gemeinschaft höchst gefährlich, ja eine „Gefahr für unser Zeitalter“.

Porträtfoto von Edgar Zilsel

Gemeinfrei

Edgar Zilsel wurde am 11. August 1891 als Sohn des Wiener Rechtsanwalts Jakob Zilsel und von Lina Zilsel geboren. Er beendete 1915 sein Studium der Philosophie, Mathematik und Physik an der Universität Wien, arbeitete zunächst als Versicherungsmathematiker, ab 1917 als Mittelschullehrer. Bereits 1918 trat der der Sozialdemokratie bei. Er war mit Otto Bauer befreundet und publizierte in den Zeitungen und Zeitschriften der Partei. Auch in diesen politischen Beiträgen finden sich immer wieder Elemente der Geniekritik – elitäre Massenverachtung und unreflektierte Persönlichkeitsverehrung waren auch ein Thema der Politik. Vorträge über den Geniekult hielt Zilsel in den Jahren der Ersten Republik als Volks- und Arbeiterbildner regelmäßig.

Antisemitische und antimarxistische Netzwerke

Zilsel war wie viele linke Wissenschaftler an mehreren Volkshochschulen aktiv, die damals als Ort der Wissenschaft und innovativen Lehre galten. Mit einer Arbeit über den Geniebegriff wollte Zilsel sich 1923/24 aber auch an der Universität Wien habilitieren, doch dieser Versuch scheiterte. Vor allem die beiden in antimarxistischen und antisemitischen Netzwerken organisierten Universitätsprofessoren Richard Meister und Robert Reininger, der eine ein Pädagoge, der andere Philosoph, argumentierten gegen seine angeblich zu wenig philosophisch orientierte, einseitig rationalistisch ausgerichtete Arbeit, in der „alles auf das Wirtschaftliche zugeschnitten“ sei.

Konferenz

“Edgar Zilsel und die Kritik der Geniereligion“. Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 5.-7. Dezember 2018

1926 veröffentlichte er das Buch „Die Entstehung des Geniebegriffs“. Das Buch war als ein „Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus“ konzipiert. Zilsel wollte darin „soziale Gesetze“ aufzuzeigen, auf denen die historische Entwicklung des Geniebegriffs basierte. Angekündigte Folgebände, die das Thema bis in die Gegenwart führen sollten, erschienen aber nicht mehr.

Emigration und Suizid

Durch die austrofaschistische Machtergreifung und zunehmende Repressionen gegen die Linke in den Jahren 1933 und 1934 wurde Zilsels Karriere als Dozent an Wiener Volkshochschulen beendet. 1938 flüchtete er mit seiner Frau, der Lehrerin Ella Zilsel, und seinem Sohn über England in die USA. Er arbeitete unter prekären sozialen Bedingungen zunächst in New York und dann in Oakland/Kalifornien. In diesen Jahren schrieb er grundlegende Aufsätze über die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, die erst Jahrzehnte später, zuerst auf Deutsch und dann auf Englisch, gesammelt publiziert werden.

Doch das Leben als Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten war „katastrophal“ für Edgar und Ella Zilsel, wie ihr Sohn Paul sich später erinnerte. Ella Zilsel wurde psychisch krank und Edgar Zilsel verzweifelte an seiner persönlichen wie auch beruflichen Situation. Im März 1944 entschied er sich für den Freitod. Kurz davor legte er noch eine Zehndollarnote bereit und bat den Hausmeister, der seine Leiche finden würde, um Nachsicht für die Unannehmlichkeiten.

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