Ein Mann mit besonderer Eigenschaft

Moses hat die Israeliten bei ihrem Exodus aus Ägypten in der Bibel angeführt. Sein Zorn, den er beim Tanz seines Volkes um das goldene Kalb verspürte, ist nicht nur für Gläubige interessant. Warum, erklärt der Philosoph Alexander Hippmann in einem Gastbeitrag.

Vor Kurzem fand an der Karl-Landsteiner Universität in Krems das achte Symposion der Maimonides Lectures statt, auf dem der Exodus im Dialog zwischen Wissenschaften und Abrahamitischen Religionsgemeinschaften diskutiert wurde. Der Titel „Der Weg ins Freie“ legte schon nahe, dass dabei nicht nur die Geschichte eines politischen Emanzipationsprozesses im Mittelpunkt stand.

Porträtfoto des Philosophen Alexander Hippmann

Alexander Hippmann

Über den Autor

Alexander Hippmann ist Habilitand im Fach Philosophie und Geschäftsführer des Weiterbildungsinstituts Wien. Publikation: Der Traum in Philosophie und Psychoanalyse. Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften 2009

Die faszinierende Geschichte des 40 Jahre andauernden Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten nimmt im Judentum und Christentum eine zentrale Stellung ein. Im Islam treten an ihre Stelle in hohem Maße die Erzählungen über die Hidschra, was Raum für religionsvergleichende Perspektiven eröffnet.

Wenn diese epochalen Geschichten in den Fokus rücken, spricht man in den Sozialwissenschaften heute häufig von „Narrativen“. Dabei handelt es sich um Erzählungen, die vielfach identitätsstiftend sind. Sie bilden die Basis von Identifizierungsvorgängen und tragen dazu bei, das Verständnis der Welt des jeweiligen Kulturkreises oder auch die Emotionen oder Werte von Gruppen zu prägen. Diese Prozesse der Identitätsstiftung gelten als ergänzend zur subjektiven Identität. Für manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen diese Prozesse soweit, dass im Rahmen der Identifizierung sogar die engen Grenzen subjektiver Identität überschritten werden.

“Weg ins Freie“ in Religion und Wissenschaft

Mit einem religionswissenschaftlichen Blick auf die Bibel und das Narrativ des Exodus lässt sich feststellen, dass das Thema und die damit verknüpfte Befreiung auch in den Evangelien aufgegriffen wird. Jesus wird wie im Matthäus-Evangelium z. B. als „neuer Moses“ dargestellt. Im Unterschied zum Christentum kommt das Judentum aber ohne Gründergestalt aus.

Darüber hinaus lassen sich auch aus einer säkularen wissenschaftlichen Perspektive Zugänge zum Narrativ des Exodus finden. Er wird nicht nur von Theologinnen und Theologen behandelt, sondern hat auch Eingang in die Literatur, in die Welt des Films und in die Popkultur gefunden. Das unterstützt die Wissenschaften darin, den „Weg ins Freie“ umfassender zu erforschen.

Ruhende und zugleich bewegte Mosesstatue

Aus Perspektive der Psychoanalyse zum Beispiel tritt die Figur Moses aus verschiedenen Blickwinkeln heraus, wie Patrizia Giampieri-Deutsch in ihrem Vortrag ausführte. Der „Auszug aus Ägypten“ ist vor allem an eine Persönlichkeit mit besonderen Eigenschaften geknüpft. Dabei handelt es sich um Eigenschaften, die bereits Sigmund Freud in seinen Arbeiten über Moses zu untersuchen begann.

Moses von Michelangelo Buonarroti in San Pietro in Vincoli

CC-BY-3.0

Mosesstatue in San Pietro in Vincoli

Freud verwies in seinen Untersuchungen auf eine von Michelangelo geschaffene, in San Pietro in Vincoli stehende Marmorstatue von Moses. Denn mit Blick auf diese mächtige, bisweilen kontemplativ wirkende Statue lässt sich fragen, warum wir Moses immer nur als denjenigen kennen, der die zwei Tafeln der zehn Gebote voller Zorn auf den Boden warf, als er sein Volk um ein Götzenbild tanzen sah. Die Statue, die auch Ruhe und Nachdenklichkeit ausstrahlt, steht im Widerspruch zu dem Zorn, der mit seiner Gestalt tradiert wird.

Es lässt sich nach Freud bei stärkerer Aufmerksamkeit auf diese Figur ein besonderes Merkmal finden. Das Hauptgeheimnis der Wirkung dieser Statue des Moses liege in seiner Haltung, in dem „ausgedrückten Gegensatz von ‚scheinbarer Ruhe‘ und ‚innerer Bewegtheit‘“. Für Patrizia Giampieri-Deutsch handelt es sich dabei um eine Eigenschaft, die in die moderne Psychoanalyse unter dem Begriff „Containment“ Eingang gefunden hat. Containment ist im Wesentlichen ein Prozess, in dem stark negativen Impulsen Einhalt geboten wird - z. B. Wut, Zorn oder Angst.

Angst-Containment bei „Alien“

In der Bibel wird Moses bei der Aufgabe, die Israeliten ins Freie zu führen, schließlich vom Zorn überwältigt. Aber was geschah in diesem ganzen Prozess, war das so einfach? Kann man sich fragen, ob die Eigenschaft und die Merkmale von Containment ihren Platz auch in der Erzählung finden könnten? Bei einem Emanzipationsprozess handelt es sich häufig um einen Weg, der auch mit Rückschlägen verbunden ist. Die Vorstellung, dass man dabei wie durch eine Tür einfach ins Freie tritt, und in der Folge frei ist, scheint in vielerlei Hinsicht zu kurz oder eng gefasst. Und beim Anführen eines solchen Emanzipationsprozesses kann es durchaus auf eine Person mit besonderen Eigenschaften ankommen.

Ausschnitt aus dem Film "Aliens - dir Rückkehr" mit Sigourney Weaver als  Lieutenant Ripley

AP

Ausschnitt aus dem Film „Aliens - die Rückkehr“ (1986) mit Sigourney Weaver als Lieutenant Ripley

Wenn man zur Verdeutlichung eines vergleichbaren Prozesses von Containment kurz einen Blick in die Welt des Films wirft und dort nach Figuren sucht, die im Rahmen von Führungsaufgaben diese Fähigkeit aufzeigen, so wird diese Eigenschaft vielleicht weiter verständlich. So stößt man z. B. auf die Person der Captain Ellen Ripley im Film „Alien“. Sie beginnt als Dritter Offizier und rettet zum Schluss die Erde. Sie zeigt diese besondere Fähigkeit des Containment. Sie ist es, die es schließlich schafft, „Alien“ zu stellen, wenn sie ihren Blick darauf richtet, was passieren würde, wenn das Raumschiff die grausame Kreatur „Alien“ lebend auf die Erde bringen würde.

Wir begegnen hier dem Phänomen von Containment, jedoch nicht in Bezug auf Zorn, sondern auf Angst. Ripley hat große Angst, aber auch das Vermögen mit ihr umgehen zu können. Sie kann ihr Einhalt gebieten, um zu dem höheren Ziel zu kommen, die Erde vor dem Untergang zu bewahren. Wir begegnen also - statt riesigem Zorn - starkem Angstgefühl, großem Verantwortungsgefühl und der speziellen Fähigkeit, dieser Angst auch Einhalt gebieten zu können. Wodurch es Ripley auch gelingt, ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten und die bio-mechanoide Kreatur aus dem Raumschiff zu treiben.

Befreiung gelingt nicht von heute auf morgen

Wenn wir mit diesen Bildern aus der Welt des Films wieder zurück in die Bibel wechseln, so wird uns Moses in einer Entwicklung, wo der Umgang mit Zorn von großer Bedeutung ist, noch ein Stück greifbarer. Moses konnte, auch wenn er ein großes, über Jahre andauerndes Verantwortungsgefühl zeigte und auch den Mut hatte, das Problem des Götzendienstes in seinem Volk nicht zu verleugnen, seinem Zorn gerade an dieser Stelle der Entwicklung nicht mehr Einhalt gebieten. Er warf die Tafeln der zehn Gebote, gerade nachdem er sie von Gott empfangen hatte, voller Wut auf den Boden, als er sein Volk um das goldene Kalb tanzen sah, worauf in den darauffolgenden Stationen des Exodus wieder Manches von Neuem beginnt.

Maimonides Lectures

Die von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten, von Patrizia Giampieri-Deutsch und Hans-Dieter Klein geleiteten Maimonides Lectures bilden seit fünf Jahren eine Plattform der Auseinandersetzung von Wissenschaften und Abrahamitischen Religionen. Ende November 2018 fand die achte Lecture („Der Weg ins Freie“) an der Karl Landsteiner Universität für Gesundheitswissenschaften in Krems statt.

Im Unterschied zu Vergleichsbeispielen, die rund um starke bis überwältigende Emotionen den Ablauf von Containment weiter deutlich machen können, scheint bei Moses aber vor allem dieser zentrale Rückschlag im gesamten Emanzipationsprozess, Eingang in unser Gedächtnis gefunden zu haben. Michelangelo schuf jedoch in seiner berühmten Marmorstatue ein erstes Abbild davon, dass Moses, wie Freud herausstellte, wahrscheinlich die grundsätzliche Eigenschaft besessen haben könnte, mit „innerer Bewegtheit“ und starken negativen Impulsen gut umgehen zu können.

Denn mit Blick auf die Merkmale und Formen von Containment, wie von Zorn oder Angst, wäre immer wieder auch wichtig im Auge zu behalten, dass der „Weg ins Freie“ in Narrativen wie dem Exodus häufig nicht von heute auf morgen gelingt. Eine entsprechende Entwicklung ins Freie kann durchaus länger dauern. In der Bibel können wir dazu einem Entwicklungsprozess von 40 Jahren folgen.

Literatur

Freud, Sigmund (1914b). Der Moses des Michelangelo, Gesammelte Werke 10: 172-201
Giampieri-Deutsch, Patrizia (29. November 2018). Einleitungsvortrag der 8. Maimonides Lectures. Endliche und unendliche Befreiung: Säkularisierte Interpretationen des Exodus
Ricœur, Paul (1987). Narrative Identität, in Heidelberger Jahrbücher, hg. E. Mittler. Berlin, Heidelberg: Springer, Bd. 31, 57-67

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