„Menschliche Materialkunde“

Kurz nach dem Überfall der Nationalsozialisten auf Polen ist der Wiener Völkerkundler Anton Adolf Plügel zum „Osteinsatz" angetreten. Mit biometrischen Erhebungen diente er der rassistischen Selektionspolitik, wie die Anthropologin Lisa Gottschall in einem Gastbeitrag schildert.

Anton Adolf Plügel (1910-1945) begann 1928 sein Studium an der Universität Wien. Er interessierte sich beinahe ausschließlich für anthropologische und ethnologische Themengebiete und wählte vorzugsweise Fächer und Fachvertreter, die für den Nationalsozialismus und seine Ideologie noch wichtig werden sollten. Im Herbst 1934 verließ er ohne formalen Studienabschluss die Universität, um sich in Berlin im NS-Propaganda-, Medien- und Jugendbereich zu engagieren. Die Parteimitgliedschaft hatte er bereits im Jahr 1930 - drei Jahre vor dem Verbot der NSDAP in Österreich - erworben. Erst nach dem „Anschluss“ kehrte er nach Wien zurück, um seine Dissertation fertig zu stellen.

Porträt Lisa Gottschall

Interfoto

Über die Autorin

Lisa Gottschall ist Doktorandin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie und studiert Zeit- und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Wien. Nach mehreren Jahren hauptberuflicher Tätigkeit als Sozialarbeiterin, ist sie derzeit Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften/Kunstuniversität Linz in Wien.

Am 7. Jänner 2019, 18:15 hält sie einen Vortrag zum Thema; IFK, Reichsratsstraße 17

Nach seiner Promotion war Plügel einige Wochen für das Wiener Völkerkunde-Museum tätig, bevor er nach Krakau übersiedelte. Nach einer kurzen Anstellung im behördlichen Dienst als „Referent für Volksbildungswesen“, wechselte er an eine neu gegründete, politisch-angewandte Forschungseinrichtung: das Institut für Deutsche Ostarbeit.

Das Institut war nach der Besetzung Polens und der Zerschlagung der Jagiellonen-Universität Krakau in deren Räumlichkeiten eingerichtet worden. Die Untersuchungen sollten der geplanten „Neuordnung Europas“ und den damit verbundenen „Lebensraumzielen“ in Osteuropa dienlich sein.

Neben der Erforschung des „Deutschtums“ in der Region, hatte das Institut unmittelbare administrative und wirtschaftliche Fragen der NS-Besatzungspolitik zu bearbeiten. Die institutseigene Sektion „Rassen- und Volkstumsforschung“ mit Plügel als Leiter, war mit der Gewinnung ethnopolitischer Daten befasst.

„Eindeutschungsfähig“?

Primäre Aufgabe war die Erstellung einer für die zukünftigen Selektionsmaßnahmen zweckdienlichen Klassifikation der Bevölkerung des Generalgouvernement in die Kategorien „Volksdeutsche“, „Deutschstämmige“ und „Eindeutschungsfähige“. Dabei wurden vor allem Siedlungen und Personengruppen untersucht, denen man eine „deutsche Abstammung“ nachsagte.

Messbögen mit anthropometrischen Fotografien der Sektion „Rassen- und Volkstumsforschung“ (Ausschnitt)

Archiv Jagiellonen-Universität Krakau, Smithsonian Records

Messbögen mit anthropometrischen Fotografien der Sektion „Rassen- und Volkstumsforschung“ (Ausschnitt)

Die Gemeindevorsteher der betroffenen Orte mussten eine vollständige Liste über die Ortsbewohner abgeben, die vor der „Anthropologischen Kommission“ zu erscheinen hatten. Das Ignorieren dieser Anordnungen wurde von der Besatzungsmacht geahndet, Zuwiderhandlungen bestraft. ZeitzeugInnen berichten von Angst und Einschüchterung unter den Ortsansässigen. Die Untersuchungen wurden als äußerst erniedrigend erlebt.

Vernichtendes Urteil

Die erhobenen Körpermaße wurden in einem Messdatenblatt festgehalten und mit anthropometrischen Fotografien ergänzt. Außerdem wurden Finger- und Handabdrücke abgenommen, Kopf- und Haarskizzen angefertigt sowie medizinische, psychologische und ökonomische Fragebögen ausgefüllt. Plügel schrieb im Jahr 1941, „eine Art menschlicher Materialkunde“ sei nötig, um die BewohnerInnen des Generalgouvernements „nach dem politischen Willen des Führers in unsere Ordnung einzubauen.“

Plügel mit góralischen Kindern

Archiv Jagiellonen-Universität Krakau, Smithsonian Records

Plügel mit góralischen Kindern

Der polnischen Bevölkerung stellte er in dem Zusammenhang ein vernichtendes Urteil aus. Um einiges milder bewertete er jedoch die Górale - eine Bevölkerungsgruppe aus der Gegend um Zakopane im Süden Polens. Bereits in seinem ersten Jahr im Generalgouvernement hatte er - offenbar auf persönlichen Wunsch Heinrich Himmlers - dort Feldforschung betrieben.

Heinrich Himmler und die Górale

Kurz nach dem Überfall auf Polen absolvierte Heinrich Himmler eine Inspektionsreise in die Tatra-Region. Die dort ansässigen Górale, so Himmler im Mai 1940 in einer geheimen Denkschrift, gehörten zu jenen „Völkerschaften“, die es „anzuerkennen und zu pflegen“ galt. Die Górale wurden wegen ihrer Folklore und ihrer vermeintlichen deutschen Abstammung besonders hervorgehoben und umworben.

Plügel (3. von links) bei den Górale

Archiv Jagiellonen-Universität Krakau, Smithsonian Records

Plügel (3. von links) bei den Górale

Quellen

Die erhalten gebliebenen Dokumente der Sektion „Rassen- und Volkstumsforschung“ sind seit 2007 im Archiv der Krakauer Universität unter den Signaturen IDO 1-118 sowie „Records of the Institut für Deutsche Ostarbeit, Sektion Rasse- und Volkstumsforschung“ (Beth Schuster, 2007) zu finden. Himmlers Inspektionsreise hat Hanns Johst in dem Büchlein „Ruf des Reiches - Echo des Volkes! Eine Ostfahrt“ (München, 1940) festgehalten.

Als „Beweise germanischer Volksanteile“ dienten Plügel nicht nur „nordische Rassenelemente“, sondern auch die „Häufigkeit des Hakenkreuzes in der góralischen Zierkunst“. Ebenso glaubte er einen Einfluss der „deutschen Kultur“ in der traditionellen Kerbschnittornamentik und Teilen der Tracht zu erkennen. Die Frage nach der Einordnung der Górale beschäftigte verschiedenste Stellen der deutschen Verwaltung. Plügels Arbeit wurde dabei politischen Entscheidungsträgern zur Verwendung vorgelegt. Die NS-Zeit überstanden die Górale vergleichsweise glimpflich – was ihnen nach 1945 in Polen den Vorwurf der Kollaboration einbrachte.

Studien im Ghetto Tarnów

Während die geschilderten Tätigkeiten Anton Plügels zunächst als genereller Beitrag zur neuen „Ostpolitik“ des NS-Regimes verstanden werden können, änderte sich diese Akzentsetzung mit Plügels Vorbereitungen einer Studie an orthodoxen jüdischen Familien im Ghetto Tarnów – offenbar ahnend, welche Maßnahmen geplant waren. „Unter Umständen“ könne ihnen „durch zu langes Warten wertvolles Material entgehen“, so Plügel im Oktober 1941 an Dora Kahlich vom Wiener Anthropologischen Institut, die für die Auswertung der Körpermaße rekrutiert worden war.

Messbögen mit anthropometrischen Fotografien der Sektion „Rassen- und Volkstumsforschung“ (Ausschnitt)

Archiv Jagiellonen-Universität Krakau, Smithsonian Records

Messbögen mit anthropometrischen Fotografien der Sektion „Rassen- und Volkstumsforschung“ (Ausschnitt)

Im April 1942 wurde der Plan in die Tat umgesetzt. Gleich anschließend plante Plügel eine Vergleichsstudie in einer dörflichen jüdischen Gemeinde im Osten des Distrikts Galizien sowie eine Untersuchung von sowjetischen Kriegsgefangenen. Zur Verwirklichung seiner Pläne kam es allerdings nicht mehr. Im Mai 1942 wurde er in die Wehrmacht eingezogen.

Literaturauswahl

Lisa Gottschall: „Anton Adolf Plügel: NS-Schulungsleiter und Altmexikanist“ sowie „Anton Adolf Plügel und die Sektion Rassen- und Volkstumsforschung“, in: Andre Gingrich und Peter Rohrbacher (Hg.): „Völkerkunde zur NS-Zeit aus Wien (1938-1945): Netzwerke, Interessen und Praktiken“. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (in Vorbereitung).

Das Ende des Instituts

Nach Plügels Einberufung übernahm seine Kollegin aus Wien, Elfriede Fliethmann, inoffiziell die Leitung der Sektion und betrieb die begonnenen Studien weiter. Unter anderem wurden polnische und ukrainische ZwangsarbeiterInnen in der Entlausungsanstalt in Krakau untersucht.

Im Zuge der Evakuierung der deutschen Dienststellen aus Krakau im Jahr 1944 wurden Teile des Instituts auf die Schlösser Zandt und Miltach in Bayern verlegt. Anton Plügel konnte seine gesammelten Materialien nicht mehr selbst in Sicherheit bringen - er fiel am 6. März 1945 in Königsberg/Kaliningrad. Im Juli 1945 wurde von den Alliierten die vollständige Auflösung des Instituts angeordnet, das Forschungsmaterial beschlagnahmt und in die USA transferiert.

Mehr zum Thema