„Weinen bildet nicht“

Kitschig, routiniert und kommerzialisiert - die Kultur der Erinnerung an den Holocaust steckt in der Krise, behauptet der Zeithistoriker Martin Sabrow. Die auf Emotionen setzenden Sozialen Netzwerke seien dabei Herausforderung, aber auch Chance, die Krise zu überwinden.

Anfang Mai sorgte ein Instagram-Account eines jungen Mädchens für Aufsehen. Die Rede ist von „Eva Stories“. Innerhalb kürzester Zeit klickten sich Menschen millionenfach durch ihre kurzen Videos im Internet. Sie zeigen die Geschichte des ungarisch-jüdischen Mädchens Eva Heyman, die im Jahr 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Ihre Geschichte wird im sozialen Netzwerk erzählt, als hätte es damals bereits Smartphones und Plattformen wie Instagram gegeben. Eva nimmt ihre Follower mit zu ihrem 13. Geburtstag, filmt mit ihrem Smartphone, wie die Nazis aufmarschieren und teilt ihre Ängste aus dem Konzentrationslager in Auschwitz.

Der Historiker Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, sieht solche Formen des sich Erinnerns kritisch. „Weinen bildet nicht, ist einer dieser klassischen Sätze. Aufklärung setzt auch eine gewisse Distanzierung voraus und meint nicht ein illusionäres Hineinschlüpfen, das immer absurd ist.“

Neue Formen notwendig

Dennoch ist zu akzeptieren, dass jede Generation, jede Zeit ihre neue Form der Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte sucht und es auch soll, so der Historiker und ehemalige Geschichtslehrer. „Ich meine schon, dass es gesellschaftlich definierte Grenzen geben kann, die nicht zu überschreiten sind. Auf der anderen Seite habe ich Sorge, dass wir, wenn wir diese Grenzen zu fest markieren, dann dem Gedenken schaden, weil wir es steril machen.“

Veranstaltung

Martin Sabrow war anlässlich der Simon Wiesenthal Lectures in Wien zu Gast und sprach am 16.5. über „Von der Aufklärung zur Affirmation? Zur Krise der Erinnerungskultur". Veranstalter war das Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI).

Das sei, so Sabrow, aktuell das wesentliche Problem, wenn es um das Erinnern an den Holocaust geht. Gedenkfeiern werden routiniert abgehalten, Mahnmale mit einer gewissen Gleichgültigkeit besucht und das Erinnern zunehmend kommerzialisiert, beschreibt der Historiker und spricht von einem regelrechten Gedenktourismus. „Die Erinnerungskultur, so behaupte ich, hat die Probleme mehr im Inneren als im Äußeren: Mit der Herausforderung durch den Rechtspopulismus werden wir fertig werden. Aber mit der inneren Versteinerung vielleicht nicht. Sie wird zu einem Routinegeschäft, sie wird auch zu einem Kitschartikel.“

Streit als Mittel gegen die Krise

Die Auseinandersetzung und manchmal auch der Streit über neue Formen des sich Erinnerns kann dabei eine wichtige Rolle spielen, die Routine zu brechen. Dazu gehört auch das oft kritisierte Selfie vor den Toren von Auschwitz, wo hunderttausende Menschen ermordet worden sind.

„Vielleicht haben wir es hier mit einem ungeschickten, aber gar nicht desinteressiert gemeinten Versuch zu tun, sich selbst in eine Beziehung zu setzen mit dem, was man dort erlebt.“ Vor wenigen Jahren dachte Sabrow noch anders darüber. Als Lehrer an einem Berliner Gymnasium hatte er seinen Schülern verboten, sich im KZ Sachsenhausen auf den Ofen eines Krematoriums zu setzen und eine Zigarette zu rauchen, KZ-Selfies für Social Media schienen ihm gedanken- und manchmal geschmacklos. „Der Ort hat eine eigene Dignität in meiner Wahrnehmung, und sie wird verletzt, wenn man sich in seiner Alltagshaltung bewusstlos dazu verhält.“

Heute akzeptiert Sabrow, dass Geschichtskultur sehr individuell ist und die Erinnerung an den Holocaust bei jedem anders aussehen kann. „Man kann in den Menschen nicht hineinsehen. Dadurch ist es vielleicht sinnvoll, seine eigenen normativen Urteile ein Stück weit zurückzunehmen, aber nicht zwingend aufzugeben.“

Gedenken darf nicht lächerlich machen

Nicht zu akzeptieren sei es hingegen, wenn historisches Wissen lächerlich gemacht, menschenrechtliche Grundsätze verletzt oder die Erinnerung so verfremdet wird, dass Ursachen und Folgen nicht mehr klar erkennbar sind, stellt der Historiker klar. „Solange das aber nicht der Fall ist, sollte niemand dastehen und sagen, diese und jene Form ist nicht mehr zulässig. Instagram ist eine Form der Kommunikation, und sie wird genutzt, ob sie uns gefällt oder nicht gefällt. Ich glaube, die Auseinandersetzung hier ist das Entscheidende. Das Verbot ist es sicherlich nicht.“

Egal, welche Form der Erinnerung man wählt, wichtig sei es zu wissen, was damals tatsächlich passiert ist und wie es dazu kam.

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

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