Neandertaler tauchten im Mittelmeer

Bisher galten sie als robuste Höhlenmenschen, angepasst an die Kälte während der Eiszeit. Funde in Italien vermitteln ein völlig anderes Bild: Neandertaler lebten auch an der Mittelmeerküste – und tauchten dort nach Muscheln.

Die Funde stammen aus der Grotta dei Moscerini. In der in Mittelitalien gelegenen Höhle wurden bereits 1949 uralte, von Menschenhand bearbeitete Venusmuscheln entdeckt. Nun, 70 Jahre später, klärt die Archäologin Paola Villa, was diese Entdeckung wirklich bedeutet. Wie sie im Fachblatt „Plos One“ schreibt, wurden die Schalen in der Altsteinzeit von Neandertalern mit Werkzeugen bearbeitet und dann als Schabmesser verwendet.

Muscheln mit geschliffenen Kanten

Villa et al., 2020

Geschliffene Kanten: Muschelschalen aus der Grotta die Moscerini

Damit fügt sie der Liste der bisher bekannten Arbeitsgeräte unserer ausgestorbenen Verwandten ein neues Detail hinzu, nebst Faustkeilen, Feuersteinen, Teer-Klebstoffen und Schleifgeräten aus Rehknochen verwendeten die Neandertaler wohl bereits vor 90.000 Jahren Muschelklingen, die den großen Vorteil hatten, dass man sie regelmäßig nachschärfen konnte.

Urmenschen mit „Schwimmerohr“

Bemerkenswert ist der Fund allerdings aus einem anderen Grund. Villa fiel auf, dass etwa drei Viertel der untersuchten Venusmuscheln (171 sind es insgesamt) eine matte und abgeschliffene Schale aufweisen. Das ist auch zu erwarten, wenn Muscheln am Strand angespült und dort aufgelesen werden. Der Rest sieht anders aus, glatt und glänzend. Das, sagt Villa, ist nur möglich, wenn die Neandertaler Muscheln direkt aus dem Meer in bis zu vier Meter Tiefe geholt haben, soll heißen: Die Neandertaler waren Taucher – und haben diese Lebensweise viel früher als der moderne Mensch entwickelt.

Neandertalerschädel und vergrößert: Kochenauswuchs im Ohr

Erik Trinkaus

Neandertalerschädel mit „Schwimmerohr“

Dieser Befund passt auch gut zu einer Hypothese von Erik Trinkaus. Der US-amerikanische Anthropologe hatte letzten Sommer 23 Neandertalerschädel aus der mittleren bis späten Eiszeit untersucht und bei rund der Hälfte auffällige Knochenauswüchse im Hörkanal entdeckt. Diese Knochenbildungen stehen in Verbindung mit Reizungen des Außenohres, in der Medizin als „Otitis externa“ bekannt, umgangssprachlich auch als „Schwimmerohr“ bezeichnet, weil diese Entzündungen besonders häufig bei Schwimmern, Surfern und Tauchern auftreten. Für Trinkhaus war klar: Das ist kein Zufall, die Neandertaler müssen sich viel im bzw. unter Wasser aufgehalten haben.

Nicht nur ein Mammutjäger

Paola Villa zieht mit anderen Mitteln den gleichen Schluss – und sieht darin einen Grund mehr, das alte - nicht zuletzt popkulturell tradierte - Bild vom eiszeitlichen Mammutjäger zu revidieren. „Die Neandertaler haben nicht nur große Säugetiere gejagt, sie waren auch Fischer und Taucher“, sagt die Archäologin von der University of Colorado in Boulder. Auch was Erfindungsreichtum und Anpassungsfähigkeit betrifft, betont Villa, war der Neandertaler dem modernen Menschen durchaus ebenbürtig.

In früheren Jahren stand sie mit dieser Ansicht noch ziemlich allein da. Das hat sich mittlerweile geändert. Von Jagd, Handwerk über Kräuterkunde bis zur Höhlenkunst – wo auch immer Anthropologen und Paläontologinnen sich genauer ansehen, wie der Neandertaler einst gelebt hat, verschwimmen die Unterschiede zwischen ihm und dem modernen Menschen. Wo Homo sapiens überlegen gewesen sein soll, ist unklar.

Links ein moderner Mensch mit Bart, rechts die Illustration eines Neandertalers, dazwischen eine DNA-Helix

Michael Smeitzer, Vanderbilt University

99,7 Prozent des Erbguts von modernem Menschen und Neandertaler sind ident

Fakt ist andererseits: Der moderne Mensch existiert heute noch, der Neandertaler starb vor rund 35.000 Jahren aus. Warum? Eine überraschend einfache Erklärung bot letzten November der niederländische Genetiker Krist Vaesen an. Ihm zufolge war der Neandertaler bis zuletzt bestens angepasst, nur lebte dieser in kleinen und voneinander weit entfernten Gruppen - die, wie man aus der Populationsgenetik bedrohter Tierarten weiß, anfällig für Zufallsschwankungen sind. Dass der Neandertaler von der Bildfläche verschwand, hatte demnach gar nichts mit seinen Fähigkeiten zu tun. Vielleicht hatte er einfach Pech.

Robert Czepel, science.ORF.at

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