Gandhis historische Verirrung

Gewalt muss mit Nichtgewalt begegnet werden - davon war Mahatma Gandhi überzeugt. Im Jahr 1938 forderte Gandhi die jüdische Bevölkerung dazu auf, gewaltlosen Widerstand gegen das Nazi-Regime zu leisten - und erntete dafür deutliche Kritik vom jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber.

Das Prinzip des gewaltlosen Widerstandes ist der Forschungsgegenstand von Jyotirmaya Sharma. In einem Interview erklärt der indische Politikwissenschaftler, welche Geisteshaltung Gandhis „unverschämten Vorwürfen“ zugrunde liegt - und warum Ghandi Buber zeitlebens eine Antwort schuldig blieb.

science.ORF.at: Welche Bedeutung hat Gandhi in Indien? Ist er eine Art „Heiliger“, dessen Ansichten nicht in Frage gestellt werden?

Zur Person

Jyotirmaya Sharma ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Hyderabad. Derzeit ist er Gastforscher am Institut für die Wissenschaften vom Menschen.

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Vortrag

Jyotirmaya Sharma hielt am 9.6. einen Vortrag mit dem Titel „I Have Been Very Slow in Writing this Letter to You, Mahatma - Buber, Gandhi und die Effektivität von Gewaltlosigkeit“.

Der Vortrag ist als Video online abrufbar.

Jyotirmaya Sharma : Das ist schon lange nicht mehr der Fall. Wahrscheinlich ist Gandhi heute sogar die am stärksten kritisierte Person Indiens. Es gibt nur sehr wenige, die ihn vergöttern. Die „Rechten“ kritisieren ihn beispielsweise dafür, dass er Indien nicht als eine Hindu-Nation betrachtet, sondern als Land aller Religionen. Andere prangern seinen Vorstoß, das hinduistische Prinzip der „Unberührbaren“ abzuschaffen, an.

Gandhi ist bekannt für seine Idee des gewaltlosen Widerstands - wird darüber noch diskutiert?

Nein, eigentlich kaum noch. Manchmal wird der Begriff von Politikern verwendet, aber das ist keine ernsthafte Diskussion. Es gibt nur wenige, kleine Gruppen, die sich mit manchen Aspekten Gandhis Prinzip der Gewaltlosigkeit auseinandersetzen.

Der österreichisch-israelische Philosophen Martin Buber schrieb im Februar 1939 einen offenen Brief, in dem er Gandhi deutlich kritisierte. Warum?

Der Brief führt direkt in die Diskussion über Gewaltlosigkeit hinein. Buber bezieht sich in seinem Brief auf einen Aufsatz von Gandhi aus dem Herbst 1938. Darin kritisierte Gandhi die „Unfähigkeit“ der Juden, keinen gewaltlosen Widerstand gegen das Nazi Regime zu leisten und charakterisierte sie als hilflos und schwach. Buber war dadurch verständlicherweise verletzt und verfasste daraufhin schweren Herzens seinen Brief an Gandhi, in dem er dessen unverschämte Vorwürfe kritisierte.

Warum schweren Herzens?

Buber verehrte Gandhi zutiefst - das betonte er auch in seinem Brief immer wieder. Er wusste, dass Gandhi etwas zu sagen hatte – warum sollte er sonst ausschließlich ihm schreiben? Gandhi war nicht der einzige, der eine Meinung zur Situation der Juden hatte.

Er sagte, er bewundere Gandhi ungeachtet dessen, was er zu ihm sagte, auch wenn er seine Situation absolut nicht berücksichtigte. Der Brief ist Buber keineswegs leicht gefallen. Zum Schluss schreibt er etwa: „Ich habe sehr lange gebraucht, um dir diesen Brief zu schreiben. Ich musste mehrere Pausen machen – manchmal Tage zwischen kleinen Absätzen, um sicher zu gehen, dass ich nicht das zuerkannte Maß an Selbsterhaltung überschritten habe und dass ich nicht einem kollektiven Egoismus verfalle.“

Hat Gandhi je darauf reagiert?

Hat er nicht und das ist sehr interessant. Denn Gandhi antwortete auf jeden einzelnen Brief, den er bekam. Das zeigt, dass ihm der Brief an die Knochen ging.

Die Idee Gandhis, gewaltlosen, organisierten zivilen Widerstand zu leisten, ist angesichts der Situation im November 1938 absurd. Auch Buber wirft Gandhi vor, die Situation der Juden nicht richtig beurteilt zu haben.

Es stimmt, Gandhis Vorstoß scheint unsensibel und taktlos - ich sage bewusst scheint. Denn Gandhi sagt nicht, dass es gut oder schlecht ist, was den Juden 1938 widerfährt. Er kümmerte sich schlicht nicht darum. Was ein Fehler war. Aber er tat es nicht, weil er Hitlers Regime rechtfertigen wollte.

Er wollte vielmehr das Prinzip der Gewaltlosigkeit zu einem zentralen Wert machen. Wenn man so etwas schaffen möchte, stellt sich die Frage, ob man nicht intolerant gegenüber jeglichen Kontext sein muss - wie es Gandhi tat.

Aber ist es überhaupt möglich, den Kontext hier zu ignorieren?

In der Philosophie ja - Gandhi braucht nicht darauf einzugehen, weil er nicht die Situation der Juden bewertet. Er schreibt ausschließlich über die Möglichkeit Gewaltlosigkeit als zentralen, gesellschaftlichen Wert zu verbreiten.

Das Prinzip der Gewaltlosigkeit spielte damals in der politischen Diskussion keine Rolle - auch heute nicht. Es ging vielmehr um Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit. Möchte man aber einen neuen Wert bewerben, ist kein Kompromiss möglich, egal in welcher Situation, davon war Gandhi überzeugt. Ein „aber“, wie es Buber in seinem Brief oftmals einforderte, akzeptierte er nicht.

Auch nicht, um seine Familie oder sich selbst zu schützen?

Nein.

Ist Gandhi von dieser Linie je abgewichen?

Ich habe Gandhis Aufsätze und Schriften in dieser Frage bis 1946 studiert und er ist von seiner Überzeugung nie abgewichen. Das konnte er auch nicht.

Buber wirft Gandhi in seinem Brief vor, dass Gewaltlosigkeit angesichts eines Feindes wie Hitler und seine Anhänger uneffektiv ist. Gibt es einen Punkt, an dem gewaltfreier Widerstand einfach sinnlos ist?

Es geht nicht um passiven Widerstand, sondern darum, wie man sein gewalttätiges Gegenüber durch freiwilliges, bewusstes, gewaltfreies Leiden so beeinflusst und wandelt, dass dieser einen als gleichwertigen Menschen ansieht und nicht mehr als Objekt, das man eliminieren kann.

Letztlich können Massaker nur verhindert werden, wenn Gewaltlosigkeit ultimativ gilt - da war Gandhi sehr klar. Menschen, die diese Überzeugung teilten und ums Leben kamen, sind für ihn nicht umsonst gestorben.

Hat Gewaltlosigkeit jemals wirklich in Extremsituationen funktioniert?

Nein, natürlich ist es unmöglich. Auch Gandhi selbst ist in Indien in vielen Situationen daran gescheitert. Die ganzen Widersprüche in Gandhis eigenem Versuch, gewaltlos zu leben, sind teilweise peinlich.

Aber das ist das Schöne an einer Idee - es geht nicht um Erfolg oder Misserfolg. Ideen zeigen lediglich Möglichkeiten auf. Ich selbst bin kein Gandhianer - aber ich nehme ihn und seine Forderungen ernst.

Interview: Ruth Hutsteiner, science.ORF.at

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