Demokratie als Stilfrage

Demokratie gilt gemeinhin als eine Herrschaftsform - Till van Rahden betrachtet sie hingegen als Lebensform: Für den deutschen Historiker sind Ästhetik, Stil und Umgangsformen zentrale demokratische Tugenden, die es einzuüben gilt.

Illiberale, autoritäre oder gelenkte Demokratie: Viele sehen die liberale Demokratie aktuell in der Krise. Till van Rahden sieht das etwas anders. „Die Demokratie als Herrschaftsform war immer schon gefährdet“, sagt der Inhaber des Canada Research Chair in German and European Studies an der Universite de Montreal. Der Grund für die permanente Gefährdung liege in der erforderlichen Offenheit des demokratischen Systems.

Till van Rahden

privat

Till van Rahden war anlässlich einer Gedenkveranstaltung für Moishe Postone zu Besuch am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien.

Auch Umgangsformen zählen

Natürlich gebe es bestimmte Kriterien und Standards, die ein politisches System erfüllen muss, damit man es als Demokratie klassifizieren kann. Doch die konkrete Ausformung der Demokratie sei variabel. Demokratie als Herrschaftsform könne unterschiedliche Ausformungen annehmen, wie etwa in Form der repräsentativen Demokratie, der direkten Demokratie oder eines Rätesystems. „In 30, 40 Jahren wird die liberale Demokratie wahrscheinlich anders aussehen als das, was wir heute als liberale Demokratie begreifen“, sagt der Historiker.

Diese formalen Unterscheidungen seien wichtig, würden aber nicht erlauben, die Demokratie in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Till van Rahden, der aktuell Gastprofessor an der Universität Innsbruck ist, plädiert dafür, Demokratie auch als Lebensform zu begreifen und Stilfragen, also die ästhetische Dimension, bei der Beurteilung von Demokratie miteinzubeziehen. „In einer Demokratie ist nicht nur wichtig, welche Forderungen erhoben werden, sondern auch, wie diese erhoben und durchgesetzt werden“, erklärt der Wissenschaftler. Die Frage des Stils sei in der Demokratie ebenso wichtig wie die Frage der politischen Inhalte.

Im Streit Lösungen finden

Demokratie bedeute nicht Konsens, sondern Streit. Ein permanenter Streit über die Frage, wie wir miteinander leben wollen. Daher sei die Frage nach dem Stil einer Demokratie essenziell. „Welche Debattenstile ermuntern zu Widerspruch, Einspruch, Gegenrede?“, fragt Till van Rahden und referiert auf Machiavelli, der konstatierte, dass die Republik am besten regiert werden kann, wenn offener Streit herrscht. Nicht im Sinne eines offenen Bürgerkriegs, aber im Sinne eines Streits um die bessere Lösung.

In diesem Streit muss Vielstimmigkeit ermöglicht und erhalten werden. Unter Vielstimmigkeit versteht Till van Rahden eine Form der Rede, die die eigene Position als eine partikulare anerkennt und ebenso der gegnerischen Partei diese partikulare Position zuerkennt. Nicht nur der eigenen, sondern auch der Position des Gegners muss also Legitimität zugesprochen werden. Diese Legitimität ist wichtig, denn trotz des permanenten Streites steht das demokratische System vor der Herausforderung, politisch verbindliche Entscheidungen zu treffen.

Ö1-Sendungshinweis

Über dieses Thema hat am 6.7.2018 um 13.55 Uhr auch Wissen aktuell berichtet.

Demokratische Räume fördern

Obwohl Streit zur Demokratie gehört, sieht Till van Rahden die politische Lagerbildung, wie man sie in Österreich etwa im Bundespräsidentschaftswahlkampf 2016 beobachten konnte, kritisch. Sobald sich die Grenzen zwischen den Lagern verhärten, habe man keine Gesellschaft mehr, in der miteinander gestritten wird, sondern eine, in der sich jede und jeder in ihr bzw. sein jeweiliges Lager zurückziehe.

Um demokratisch zu streiten, braucht es demokratische Tugenden. Diese Tugenden müssen gelernt und eingeübt werden, an Schulen, Universitäten und in zivilgesellschaftlichen Einrichtungen. „In den letzten 30 Jahren sind die Möglichkeiten, diese Tugenden einzulernen, geringer geworden“, sagt der Historiker. Ein Grund dafür sei die Privatisierung von vielen öffentlichen Institutionen und Räumen. Die Krise der Demokratie auf das Erstarken rechtspopulistischer Parteien zu reduzieren, greife zu kurz. Die sozialen und kulturellen Voraussetzungen für Demokratie seien in den letzten Jahren vernachlässigt worden. Doch gerade diese gelte es zu pflegen, um die Demokratie als Herrschafts- und Lebensform zukünftig zu verteidigen.

Juliane Nagiller, Ö1 Wissenschaft

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